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Diese Aufstände der Minderheiten sind eine neue Gefahr für Putin

Was die Videos aus dem Dorf Endirej in der russischen Kaukasus-Teilrepublik Dagestan zeigen, sieht man in Russland selten. Am Sonntag haben Männer und Frauen aus dem Dorf aus Protest gegen die Mobilisierung für den Ukraine-Krieg eine wichtige Fernstraße blockiert. Weiß-blaue SUVs der Polizei sind zu sehen, sowie Polizisten, die zur Warnung ganze Salven aus Maschinenpistolen in die Luft schießen. Doch die Dorfbewohner lassen sich davon offenbar nicht beeindrucken. Es gibt keine Panik. Aggressiv schreien die Menschen die Polizisten an und drängen sie sogar zurück.

In ganz Russland wird gegen die Mobilmachung protestiert, teilweise mit Gewalt. Bei Aktionen im gesamten Land werden in diesen Tagen Hunderte Demonstranten verhaftet, die meisten in Moskau und St. Petersburg. Vielerorts werden Brandanschläge auf Verwaltungsgebäude und Einberufungsstellen gemeldet.

In der Region Irkutsk in Sibirien, mehr als 5000 Kilometer von Moskau entfernt, wurde ein Militärkommissar schwer verletzt, nachdem ein junger Mann auf ihn das Feuer aus einer offenbar selbst gebauten Waffe eröffnet hatte.

Zum Dienst in der Armee eingezogene Bürger in der Nähe der Stadt Omsk in Sibirien

Zum Dienst in der Armee eingezogene Bürger in der Nähe der Stadt Omsk in Sibirien

Quelle: REUTERS

Putins Ankündigung einer Mobilmachung, die Hunderttausende Bürger zum Einsatz in der Ukraine verpflichten soll, löst heftige Gegenwehr aus. Dabei spüren die vielen Minderheiten aus Russlands zahlreichen ethnischen Teilrepubliken den Druck auf eine besondere Weise – ihre Söhne drohen in einem Krieg zu fallen, den ein russischer Herrscher begonnen hat. Plötzlich spielt eine ethnisch geprägte Solidarität eine Rolle, die es so in den mehrheitlich russischen Regionen in dieser Form nicht gibt.

Das Dorf Endirej, nicht weit entfernt von den Grenzen zu Georgien und Aserbaidschan, ist von Kumyken bewohnt, einer der drei größten Volksgruppen in der Vielvölker-Republik Dagestan. In ganz Russland leben gerade einmal eine halbe Million Menschen, die sich zu diesem turksprachigen Volk zählen. Jeder gefallene junge Mann ist auch ein kultureller Verlust, ihre seltene Sprache hat einen Sprecher weniger. Auch solche Ängste können ein zusätzlicher Ansporn für Protest sein.

Es hat auch einen Grund, dass die Demonstranten eher wenig Angst vor der Polizei zeigen. In einem Dorf wie Endirej gehören die Polizisten entweder dem eigenen Volk an, oder anderen, benachbart lebenden Volksgruppen. In beiden Fällen sorgen sich die Polizisten vor Exzessen der Gewalt auf den Straßen. Entweder aus Angst vor der Wut des eigenen Volks oder vor interethnischen Unruhen in einer Republik, wo ein Dutzend Völker nebeneinander lebt und ethnische Russen nur eine winzige Minderheit sind.

In der Republikhauptstadt Machatschkala dagegen, die unter stärkerer Beobachtung Moskaus steht und wo sich alle diese Gruppen mischen, reagierte die Polizei deutlich härter auf die Proteste. Männer wie Frauen wurden brutal geschlagen, 100 Menschen wurden eingesperrt.

Festnahmen gab es auch in der Hauptstadt der ostsibirischen Teilrepublik Jakutien. Dort tanzten am Sonntag rund 400 Frauen den traditionellen Volkstanz Osuohaj, eine Art Reigen, gegen den Krieg und die Mobilisierung. Sie skandierten „Nein zum Krieg!“ und „Nein zum Genozid!“

Anti-Kriegs-Tänze umgedeutet

In der besonders für ihre Bodenschätze wie Diamanten bekannten Teilrepublik im Osten Russlands stellt die Titularnation der Jakuten mit etwa 460.000 Einwohnern knapp die Mehrheit die Bevölkerung – aber in ihrer Hauptstadt Jakutsk sind die Russen in der Mehrheit. Lokale Behörden und staatstreue Medien deuteten den Anti-Kriegstanz dann auch gleich zu einer Art Gebet für das Wohlergehen der eingezogenen Reservisten um.

Welche politische Wirkung solche Protestaktionen entfalten können, scheint also nicht zuletzt davon abzuhängen, wie die sich ethnischen Mehrheiten in der Region gestalten. Eigene Sprache und eigene Traditionen kann man vor allem dort in den Protest einflechten, wo der Anteil der russischen Bevölkerung nicht zu hoch ist, sie zumeist nicht die lokale Sprache spricht und kaum etwas von der lokalen Traditionen versteht.

In stark russifizieren Gebieten wie Burjatien östlich des sibirischen Baikalsees, wo der Anteil der Titularethnie der Burjaten weniger als ein Drittel der Bevölkerung ausmacht, dürfte es weder Volkstänze gegen den Krieg geben noch Straßensperren.

Trotzdem: Mit Prognosen sollte man vorsichtig sein. In den meisten Provinzen mit großen nicht ethnisch-russischen Bevölkerungsanteilen wird bislang nicht in dieser Vehemenz gegen die Mobilisierung demonstriert.

Aus manchen Regionen, die so gut wie keine ethnisch-russische Bevölkerung haben wie der Republik Tuwa im südlichen Sibirien, Heimat des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu und ärmste Region Russlands, sind gar keine Proteste überliefert.

Letztlich reagieren die Menschen vor auf konkrete Ängste und Ärgernisse. Wenn die Mobilisierung wie im weit in Ostsibirien Jakutien besonders chaotisch verläuft, kann sie Proteste auslösen. Anderswo könnten die Menschen trotz ihres Selbstverständnisses als eigenes Volk so demoralisiert und ressourcenarm sein, dass Proteste einfach nicht entstehen können.

Zudem hat der Kreml weitere Möglichkeiten, als die Proteste niederzuschlagen. Um aufkeimende Proteste zu bremsen, reicht es aus, die Mobilisierung in einer bestimmten Region runterzufahren, bis die Aufregung abgeebbt ist.

Nach den Protesten in Dagestan hat das Republikoberhaupt Sergej Melikow dann auch Fehler bei der Mobilisierung eingestanden und den zuständigen Beamten mit Konsequenzen gedroht. „Unregelmäßigkeiten“ sollen Bürger an die zuständigen Behörden in Machatschkala melden.

Die Proteste gingen weiter

Überzeugend fanden das viele Bewohner Dagestans nicht, am Montag gingen die Proteste weiter. In Machatschkala prügelten sich Demonstranten mit der Polizei. Demonstriert wurde auch in Chasawjurt, der zweitgrößten Stadt der Teilrepublik.

Solche Proteste sind besorgniserregend für den Kreml. Aber richtig gefährlich dürfte die Lage für Putin erst werden, wenn sich Protestierende über viele Regionen hinaus solidarisieren, wenn etwa in Pskow unweit der estnischen Grenze auch für Dagestan demonstriert wird, oder in Jakutsk für die südrussische Region Krasnodar. Bis dahin gilt: teile und herrsche.