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„Ein Fehlalarm könnte zu immensen wirtschaftlichen Schäden führen“

Das Beben in der anatolischen Provinz Kahramanmaraş am Montag hatte eine Magnitude von 7,8, das stärkste Nachbeben nur 11 Minuten später erreichte noch 6,7, zudem gab es Dienstagmittag mehr als 25 Beben der Magnitude 5,0 oder stärker – und es werden vermutlich nicht die letzten gewesen sein. Hervorgerufen durch das extrem starke Erdbeben ereignete sich nördlich des Hauptbebens am Montag lediglich 9 Stunden nachher ein weiteres sehr starkes mit einer Magnitude 7,5.

Die Auswirkungen in der Türkei und Syrien sind katastrophal, Tausende Menschen starben. Im Gespräch erklärt der Seismologe Lars Ceranna von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover, warum diese Region so besonders gefährdet ist. Sein Fachbereich ist als Erdbebendienst des Bundes die zentrale Sammelstelle und Datenarchiv aller seismologischen Einrichtungen in Deutschland. Hier laufen außerdem die seismologischen Informationen aus aller Welt zusammen.

WELT: Die Nachrichten aus der Region im Grenzgebiet von Syrien und der Türkei sind dramatisch. Warum sind Erdbeben ausgerechnet in dieser Region häufig und so verheerend?

Lars Ceranna: Die Tektonik im mediterranen Raum ist extrem kompliziert, insbesondere im östlichen Bereich. Im Gegensatz zu den Kontinenten Südamerika und Afrika, bei denen es sich um vergleichsweise stabile, große Blöcke handelt, haben wir es hier mit sehr vielen keinen Platten zu tun, Mini-Kontinenten, wenn Sie so wollen, die in Bewegung sind.

WELT: Mit welchen Folgen?

Ceranna: Die große Afrikanische Platte bewegt sich weiter in Richtung Asien und Europa, und das lässt sich nicht aufhalten. Im Bereich der Ostanatolischen Verwerfungszone, die aktuell betroffen ist, stoßen mit der Ägäischen Platte, der Anatolischen Platte und der Arabischen Halbinsel gleich drei Platten aufeinander. Wir Seismologen sprechen in diesem Fall von einer „triple junction“, hier ist sehr viel Bewegung drin. Über längere Zeit baut sich deshalb Spannung auf – und die wird zum Problem.

WELT: Auf diese Weise können Auswertungen entstehen, und somit Gebirge.

Ceranna: Oder es kommt zu sogenannten Transformationsstörungen, wie in diesem Fall. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihre Hände flach auf einem Tisch zusammenschieben: Die Finger versuchen sich auszuweichen, reiben aneinander. Die Kontinentalplatten verhaken sich nun, bewegen sich aber weiter. Anders als zum Beispiel in Südamerika, wo eine Platte unter einer anderen abtaucht, reiben sie sich also im betroffenen Grenzgebiet zwischen Türkei und Syrien aneinander. Diese Bewegung findet aber nicht in der Tiefe, sondern in der Kruste statt, relativ nah an der Oberfläche. Das macht diese Erdbeben so gefährlich.

WELT: Wenn sich diese Spannung immer wieder aufbaut, müssen Erdbeben zwangsläufig immer wieder auftreten. In welchen Abständen ist damit zu rechnen?

Ceranna: Das Vertrackte an Erdbeben ist, dass sie nicht wirklich zyklisch ablaufen. In San Francisco, der Bay-Area, ebenfalls ein bekanntes Risikogebiet, rechnet man etwa alle 80 Jahre mit einem großen Beben. Doch das letzte mit dramatischen Folgen geschah 1906, das heißt, das nächste ist jetzt fast 40 Jahre überfällig.

Quelle: Infografik WELT

WELT: Warum kann man das nicht besser eingrenzen?

Ceranna: Unsere Beobachtungszeiträume sind viel zu klein, als dass wir mit Fug und Recht sagen könnten, wann solche Beben wiederkehren.

WELT: Eine weitere Stadt, die ganz oben auf der Liste der erdbebengefährdeten Städte steht, ist Istanbul, die allerdings sehr viel weiter nördlich liegt, als die nun betroffene Region im Grenzgebiet von Türkei und Syrien. Ist nun auch dort mit einem Beben zu rechnen?

Ceranna: Istanbul wiederum liegt am Rand der Nordanatolischen Verwerfungszone, wo die Anatolische Platte auf die Eurasische trifft. Betrachtet man die seismischen Ereignisse der letzten Hundert Jahre, hat sich dort die Lage im Großen und Ganzen „entspannt“, was zynisch klingt, denn das Beben 1999 im Golf von Izmit forderte mehr als 17.000 Todesopfer. Doch in einem Teil dieser Zonen steht ein Beben noch aus, und dieser liegt im Marmarameer vor Istanbul. Deshalb gehen manche Experten davon aus, dass dort bald ein starkes Beben drohen könnte.

WELT: Ist denn mit weiteren Beben in der akut betroffenen Region zu rechnen?

Ceranna: Davon ist auszugehen. In den nächsten Tagen und Wochen kann es immer noch Nachbeben bis zur Magnitude 6 und darüber geben, mit katastrophalen Folgen, und zwar in der gesamten Region. Und das erschwert die Bergungsarbeiten.

WELT: Lässt sich das nicht vorhersagen?

Ceranna: Prognosen zu Erdbeben sind nach unserem Wissen bis dato nicht möglich. Natürlich beschäftigt sich die Grundlagenforschung seit Jahrzehnten damit, aber noch gelingt es mit den Modellen nicht. Und ein Fehlalarm, der zu Evakuierung weiter Gebiete führt, könnte zu immensen wirtschaftlichen Schäden führen. Aktuell sind lediglich Frühwarnungen möglich, jedoch sind solche Maßnahmen auch eine Frage der Zeit: Die Erschütterungen von Erdbeben breiteten sich mit einer Geschwindigkeit von acht Kilometern pro Sekunde aus, die nächsten Welle mit fünf Kilometern pro Sekunde – es ist daher in vielen Fällen, wie es bedauerlicherweise hier der Fall ist, für Vorkehrungen schlicht zu schnell.

„Die Handyvideos der Verschütteten können entscheidend für die Rettung sein“

„72 Stunden kann ein Mensch ohne Wasser auskommen“, erklärt WELT-Redakteur Jan-Friedrich Funk im TV-Studio. Deshalb müsse man die Verschütteten des Erdbebens nun schnell finden. Denn die niedrigen Temperaturen sind ein Problem.

Quelle: WELT / Jan-Friedrich Funk

WELT: Besteht nun ein Austausch, können Sie und Ihre Kollegen bei den Hilfsmaßnahmen helfen?

Ceranna: Ja, natürlich kooperieren wir. Alle Daten zu den Erdbeben sind frei verfügbar, von uns oder auch von den Kollegen vom Geoforschungszentrum in Potsdam oder von anderen seismologischen Diensten in Europa. Wir – als seismologische Gemeinschaft – versuchen einzuschätzen, wo mit Nachbeben zu rechnen ist, und geben die Informationen an die Hilfskräfte vor Ort weiter.

WELT: Können wir uns in Deutschland sicher fühlen oder müssen auch wir mit stärkeren Beben rechnen?

Ceranna: Wir befinden uns in Deutschland und Mitteleuropa in einem Bereich der leichten bis moderaten Seismizität. Wer sich an das Beben auf der Schwäbischen Alb im Jahre1978 mit einer Magnitude von 5,7 erinnert, oder zuletzt mit 4,1 im Juli 2022 mag es anders empfinden sein, aber das sind Ausnahmen. In unseren Lebenszeitraum können wir uns hierzulande relativ sicher fühlen.

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