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Ein Jahr nach der Kanzlerschaft: "Merkels Bilanz ist verheerend"

Vor einem Jahr, am 8. Dezember 2021, endete die Kanzlerschaft von Angela Merkel. Lange galt sie als umsichtige Krisenkanzlerin, 72 Prozent der Deutschen sagen, dass sie zu den bedeutendsten Kanzlern der bundesdeutschen Geschichte gehört. Der Historiker Jan C. Behrends widerspricht: "Ich sehe wenige Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, deren große Entscheidungen sich bereits so kurz nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt als falsch herausgestellt haben."

ntv.de: Man hört gelegentlich die Annahme, dass Putin die Ukraine nicht angegriffen hätte, wenn Merkel noch Kanzlerin gewesen wäre. Halten Sie das für plausibel?

Jan C. Behrends: Diese Annahme geht von falschen Voraussetzungen aus, denn Putin hat die Ukraine angegriffen, während sie Kanzlerin war, nämlich 2014. Angela Merkel hat damals versucht, diesen Angriff in den Minsker Verhandlungen einzudämmen. Eigentlich muss man darüber reden, was sie für die angegriffene Ukraine getan hat.

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Jan C. Behrends lehrt deutsche und osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

(Foto: ZFF)

Was hat Angela Merkel für die angegriffene Ukraine getan?

Zu wenig, um die Ukraine auf den massiven Angriff vorzubereiten, der dann nach ihrer Kanzlerschaft, im Februar 2022, erfolgte. Voraussetzungen für diesen Angriff wurden in ihrer Amtszeit geschaffen. Die beiden Nord-Stream-Pipelines ermöglichten es, die russische Gas-Infrastruktur von der ukrainischen abzukoppeln. Dieses deutsch-russische und zugleich anti-ukrainische Projekt hat sie bis zum Schluss verteidigt. Als die Nord-Stream-Röhren fertig waren, erfolgte die nächste Eskalationsstufe durch den Kreml. Merkel hatte Putin seit 2014 suggeriert, dass Deutschland am russischen Gas unbedingt festhalten werde. Das waren die falschen Signale.

Merkel ist nach wie vor der Meinung, dass Putin einen zügigen NATO-Beitritt der Ukraine 2008 nicht hingenommen hätte, stand neulich im "Stern". Hat sie damit Recht?

Die Art und Weise, wie Angela Merkel mit ihrer Regierungszeit umgeht, finde ich schon ein bisschen überheblich. Die wirklich substantielle Kritik an ihrer Russlandpolitik, auch an anderen Politiken, bügelt sie einfach ab. Sie vertritt weiterhin die Linie, die sie auch schon als Kanzlerin gefahren ist: Sie sagt, diese oder jene Entscheidung sei alternativlos gewesen. Das ist aber einfach nicht richtig. Wenn wir heute auf Osteuropa schauen, dann sehen wir: Nur die NATO-Mitglieder leben in Frieden und Freiheit. Andere Staaten wie Moldau, Georgien oder die Ukraine haben russische Truppen auf ihrem Boden. Merkel hat in Bukarest 2008 de facto eine russische Einflusssphäre akzeptiert. Noch ein falsches Signal an den Kreml.

Bezogen auf die NATO-Mitgliedschaft hat Merkel im Sommer gesagt, sie werde sich nicht entschuldigen. Das klang so, als gelte es eigentlich für ihre ganze Politik. Was denken Sie, müsste Merkel sich entschuldigen?

Entschuldigen ist ein großes Wort. Das hieße ja, dass sie wissentlich Schuld auf sich geladen hätte. Darum geht es nicht. Ich würde mir allerdings einen produktiven Umgang mit Kritik und ein Einlassen auf Gegenargumente wünschen. Ich fände es gut, wenn sie in einen Dialog eintreten würde, in dem man durchspielt, was man anders hätte machen können. Es gab viele Stimmen, die eine Eindämmung Russlands gefordert haben, einen Abbruch dieser deutschen Sonderbeziehung zu Russland und zu Putin, die sie immer gepflegt hat. Dagegen hat sie sich immer gewehrt. Im Nachhinein sieht man, dass das durchaus begründungsbedürftig ist. Sie kürzlich behauptet, dass sie gewusst habe, wie aggressiv Putin ist …

"Ich habe gewusst, wie Putin denkt", sagte sie im Sommer.

… und sie hat dennoch nicht in die Bundeswehr investiert. Das wäre die Minimal-Konsequenz aus dieser Erkenntnis gewesen. Wo war die große Bundestagsrede nach 2014, in der sie ausführte, dass es eine Bedrohung des Friedens in Europa gibt, auf die wir reagieren müssen? Mit den Minsker Abkommen hat sie versucht, dem Kreml entgegenzukommen und die Interessen der Ukraine weitgehend ignoriert. Diese Art von Politik - nicht nur Putin zu beschwichtigen, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit - ist es, die jetzt auf die Füße fällt. Es ist ihr ganzer Politikstil, die Unfähigkeit zum Konflikt, nicht nur konkrete Entscheidungen.

Merkel war in ihrer gesamten Amtszeit ziemlich beliebt, heute sagen 72 Prozent der Deutschen, dass sie zu den bedeutendsten Kanzlern der bundesdeutschen Geschichte gehört. Ist es bei so viel Zustimmung fair, ihr so viel Verantwortung für den Krieg in der Ukraine zu geben?

Merkel ist einem deutschen Bedürfnis entgegengekommen, Politik als Verwaltung zu inszenieren und politischen Streit aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Entscheidungen sollten möglichst in Hinterzimmern getroffen und dann als vollendete Tatsachen dargestellt werden. Demokratie lebt aber vom Streit. Angela Merkel wollte immer, so hat sie es stets genannt, "vor der Lage bleiben". Damit ist sie am Ende hoffnungslos hinter die Geschichte zurückgefallen. Politik ist mehr als Umfragen, Beliebtheit und die Tageslage. Es geht darum, auch die langen Linien in den Blick zu bekommen und die Konsequenzen der eigenen Politik zu durchdenken.

Merkel schreibt gerade an einem Buch, das 2024 erscheinen soll. Was erwarten Sie davon?

Ich kann das nur aufgrund ihrer wenigen öffentlichen Auftritte beurteilen, die sie seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft absolviert hat. Das hat den Erwartungshorizont eher zusammenschnurren lassen. Wenn sie mit der Kritik an ihrer Kanzlerschaft in diesem Buch ähnlich umgeht wie bisher, dann dürfte das keine besonders interessante Lektüre werden. Das Buch liest sich vermutlich wie das Porträt im "Spiegel", das stark hagiographische Züge trug. Die Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik werden andere leisten müssen.

Wolfgang Schäuble hat kürzlich gesagt, es sei vielleicht zu früh, um abschließend zu beurteilen, "ob Frau Merkel unter den großen Kanzlern einzuordnen sein wird". Mit anderen Worten: Stand jetzt gehört sie nicht in diese Reihe. Wie glauben Sie, werden Historiker und Politologen diese Frage in ein paar Jahren oder Jahrzehnten beantworten?

Ich bin da ganz bei Wolfgang Schäuble. Ich sehe wenige Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, deren große Entscheidungen sich bereits so kurz nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt als falsch herausgestellt haben. Man wird sehen, ob in der Rückschau das Jahr 2015, ihr Umgang mit der Flüchtlingskrise, geeignet ist, andere Konsequenzen ihrer Kanzlerschaft zu überstrahlen. Was Frieden und Sicherheit in Europa angeht, seit Adenauer ein zentrales Anliegen bundesdeutscher Politik, ist die Bilanz aber verheerend.

Merkel glaubt, dass Deutschland nicht als erste Nation modernste Panzer schicken sollte, weil man in Russland "mit Deutschland immer noch gut Stimmung machen kann". Ist das ein legitimer Grund?

Frau Merkel sollte akzeptieren, dass es nicht mehr darum geht, wie die Stimmung in Russland ist, sondern dass hier ein freies Land, die Ukraine, um das sie sich in ihrer Kanzlerschaft wenig gekümmert hat, um sein Überleben kämpft. Die Existenz der Ukraine, die Verteidigung der Freiheit sollten ihr wichtiger sein als die Stimmung in Russland.

Mit Jan C. Behrends sprach Hubertus Volmer