Germany
This article was added by the user . TheWorldNews is not responsible for the content of the platform.

Endlich deutsche Wucht

Alle sprangen sie auf. Die Ersatzspieler, die Trainer, die Betreuer. Jeder rannte draußen am Spielfeldrand umher, Wasserflaschen flogen durch die Luft. Es hatte den Anschein, als wusste niemand, wohin mit seiner Freude, mit dem ganzen Druck, der sich binnen weniger Sekunden löste. Als wäre der Deckel vom Kessel geflogen, so viel Energie bahnte sich am Sonntagabend sieben Minuten vor dem Abpfiff zwischen Deutschland und Spanien im Al-Bait-Stadion ihren Weg. Und auf dem Platz erst. Alle liefen sie zu dem Spieler, der für diese Ekstase gesorgt hatte, für die Befreiung: Niclas Füllkrug.

Er war der Mann, der kurz vor Mitternacht für den so umjubelten Ausgleich gegen Spanien gesorgt hatte. Sein Treffer in der 83. Minute zum Endstand von 1:1 (0:0) lässt der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, die erstmals in der WM-Geschichte in den ersten beiden Spielen ohne Sieg geblieben ist, noch alle Chancen auf den Einzug in die K.-o.-Runde offen.

Sie liegt in ihrer Gruppe E vor dem letzten Spieltag am Donnerstagabend (22 Uhr/ARD und MagentaTV) zwar mit nur einem Punkt hinter Spanien (vier Zähler), Japan (3) und Costa Rica (3) auf dem letzten Platz. Doch mit einem Sieg über Costa Rica könnte die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) den Sprung ins Achtelfinale schaffen – abhängig vom Ausgang des Parallelspiels zwischen Japan und Spanien sowie dem Torverhältnis.

Bis zum Showdown aber ist es noch etwas Zeit. Zeit, sich zu erholen, sich wieder zu fokussieren. Am Sonntag war erst einmal dieser eine Moment da, diese eine Szene, die die Mannschaft von Hansi Flick, dem Bundestrainer, vielleicht gebraucht hat – und für die Niclas Füllkrug, der 29 Jahre alte Stürmer von Werder Bremen, in den 26 Spieler umfassenden WM-Kader berufen worden war. Füllkrug – bester deutscher Stürmer und mit zehn Toren aktuell auf Platz zwei in der Torschützenliste der Bundesliga – war zur Stelle, als es darauf ankam.

„Wir können jetzt mit einem guten Gefühl ins letzte Spiel gehen“

„Wir wollten unbedingt dieses Spiel ziehen, es war wichtig, dass wir einen Punkt geholt haben – einfach für das Gefühl“, freute sich der Torschütze: „Wir wollten das Spiel natürlich gewinnen, aber wir haben noch ein bisschen Luft nach oben.“ Und so warnte Füllkrug: „Wir brauchen auch nicht durchzudrehen, das ist immer noch ein 1:1 und kein Sieg. Aber wir können jetzt mit einem guten Gefühl ins letzte Spiel gehen und hoffen, dass dann alles gut ausgeht.“

Dank des Bremers, den sie ob eines Spalts in der oberen Zahnreihe „Lücke“ nennen. Er füllte die Lücke perfekt, die es vorn im deutschen Angriff gab. Entschlossen nahm er, zuvor in der 69. Minute für Thomas Müller in die Partie gekommen, kurz nachdem Alvaro Morata die Spanier in Führung gebracht hatte, den Ball nach Zuspiel von Jamal Musiala mit – und schob ihn mit voller Wucht ins lange Eck.

Diese Schärfe, diese Härte beim Schuss – das hatte Symbolcharakter für eine Mannschaft, der das vor allem am Ende im ersten Spiel gegen Japan gefehlt hatte, aber auch über weite Strecken gegen die Spanier. Dabei hatte das Team in Person von Manuel Neuer Willen und Gier dokumentiert. Der Kapitän und Torhüter war direkt vor dem Anpfiff der Reihe nach zu einigen Spielern gegangen. Man stieß mit dem Oberkörper zusammen, man klatschte sich ab. Im Spiel waren die so ballsichereren, so versierten und technisch starken Spanier dann anfangs meist obenauf und brachten die deutsche Elf in Bedrängnis.

Bis Niclas Füllkrug in seinem dritten Länderspiel das so wichtige Tor erzielte.

„Fülle ist geil reingekommen. Dafür ist er dabei, er hat ein tolles Selbstvertrauen, und wie man jetzt gesehen hat, auch einen rechten Hammer“, lobte Thomas Müller im ZDF. „Wir haben gegen einen der Topfavoriten auf den Titel 1:1 gespielt“, ergänzte der 120-malige Nationalspieler: „Natürlich waren wir wütend. Wir hatten uns das alles ganz anders vorgestellt. Wir haben nun die Aufgabe, Costa Rica zu schlagen – und dann zu hoffen, dass das andere Ergebnis zu unserem dazu passt.“

Goretzka ist ein Gewinn

Nach dem Ergebnis im ersten Spiel gegen Japan, dem 1:2, hatte der Bundestrainer seine Aufstellung angepasst – und auf zwei Positionen neu formiert: Für Nico Schlotterbeck war Thilo Kehrer ins Team gerückt, für Kai Havertz Leon Goretzka. Vor allem Letzterer wusste über weite Strecken zu überzeugen, allen voran durch sein körperbetontes Spiel. Ansonsten war es nicht einfach gegen gut verteidigende Spanier Chancen zu kreieren. Die deutsche Elf tat sich insbesondere schwer, wenn der Gegner hoch presste. Dann agierte Flicks Hintermannschaft teilweise nervös, unsicher. Oft landete der Ball im Aus. Nach dem 0:1 wurde Deutschland, das Pech ob des Abseitstors von Antonio Rüdiger hatte, besser. Mit der Hereinnahme von Leroy Sané lastete der Druck im Kreativzentrum nicht mehr nur auf Musiala.

„Wir haben ein hochinteressantes Spiel gesehen. Jeder Fußballfan ist auf seine Kosten gekommen. Die Mannschaft hat bedingungslos gefightet. Aber wir haben erst einen Schritt gemacht“, sagte Bundestrainer Flick: „Füllkrug hat uns gutgetan, mit welcher Entschlossenheit er da abgezogen hat.“ Er bedauerte die kurz vor Schluss von Sané vergebene Chance: „Da müssen wir uns zum Schluss einfach belohnen. Das zweite Tor zu machen – das sind Dinge, an denen wir arbeiten.“ Flick bezeichnete es als „gigantisch“, was die Mannschaft geleistet habe. „Ich bin wirklich stolz, das muss ich so sagen“, sagte der Bundestrainer: „Beim Gegentor müssen wir sehen, dass wir die Passwege zu machen. Aber ich glaube, wir haben heute eine gute Antwort parat gehabt. Wenn wir diesen Aufwind mitnehmen, kann vieles möglich sein.“

Es war das Tor, das den Aufwind gab, neue Hoffnung – und die Bestätigung, wie unabdingbar es ist, mit Leidenschaft zu agieren, mit Mut. Es war bei Weitem kein perfektes, kein überzeugendes Spiel, aber immerhin ein Statement. Die Mannschaft ergab sich nicht, sie drängte gegen Spanier, gegen sie zuletzt im November 2020 eine 0:6-Klatsche kassiert hatte, auf das Tor. Und es fiel.

Diesmal „war die Bank da“

„Das war große Leidenschaft heute“, sagte Leon Goretzka, der kurz vor dem Ende der Partie noch zu einem langen Sprint ansetzte und mit einer Grätsche einen gefährlichen Konter der Spanier abbrach: „Wir wussten vor dem Spiel, dass es immer wieder Phasen geben wird, in denen wir leiden müssen. Das haben wir angenommen.“

Dem Mittelfeldspieler war es wichtig, noch Folgendes zu sagen: „Was ich positiv herausstellen möchte, ist, dass wir nach dem Gegentreffer so wiedergekommen sind, wie wir wiedergekommen sind. Das erfordert eine große Mentalität.“ Das Spiel sei in vielen Dingen ein Schritt in die richtige Richtung gewesen, ergänzte Goretzka, dem noch etwas wichtig war zu sagen: „Was man gemerkt hat, war, dass Zweikämpfe von uns abgefeiert wurden. Wenn David Raum links einen abgegrätscht hat, war die Bank da. Ich hoffe, dass bei allen die Erkenntnis da ist, dass es nur so funktionieren kann. Egal, was man für eine Qualität im Kader hat. Das muss die Erkenntnis sein von dem Spiel.“

Ein Spiel wie ein Brustlöser? Möglich. Vielleicht bedurfte es der ganzen Unruhe, die es ob der Debatte um die Kapitänsbinde gab, ob der Auftaktpleite, ob der Auswechslungen im ersten Spiel gegen Japan, für die der Bundestrainer kritisiert worden war. Die Mannschaft wirkte in sich gefestigter – das war eine Einheit, im Spiel, beim Jubel. Alle freuten sich miteinander.

Ob es am Donnerstag auch einen Grund zum Jubeln gibt, wird sich zeigen. Im bislang einzigen Duell mit Costa Rica in der Länderspielgeschichte gab es einen Sieg: Am 9. Juni 2006 siegte Deutschland zum Auftakt der Heim-WM 4:2.