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Erdogan droht mit Invasion: In Syrien zeigt sich Putins Schwäche

Die Türkei droht offen mit einer Bodenoffensive in Nordsyrien. In Reaktion verstärkt Russland seine Truppen im Grenzgebiet. Putin will damit ein Zeichen setzen. Doch der neuen Stärke Erdogans kann er kaum noch Paroli bieten.

Die russischen Truppen im syrischen Grenzgebiet zur Türkei sind in Bewegung. Bewohner der syrischen Stadt Tal Rifaat nördlich von Aleppo berichteten am Mittwoch von der Ankunft russischer Soldaten. Der Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge verstärkte Russland zugleich seine Truppen an einem nahegelegenen Luftstützpunkt und in der Nähe der Grenzstadt Kobane. Dabei handelt es sich offenbar um eine Reaktion des Kremls auf das Vorgehen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogans.

Der lässt seit rund zwei Wochen Hunderte Ziele in Nordsyrien und Nordirak beschießen. Nach eigenen Angaben handelt es sich dabei um Stellungen der syrischen Kurdenmiliz YPG und der in der Türkei verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Ankara begründet die Angriffe mit dem Kampf gegen "Terroristen", die für den Anschlag in Istanbul Mitte November verantwortlich seien. YPG und PKK weisen jegliche Verwicklungen in das Attentat zurück. Wiederholt droht die Türkei auch mit einer Bodenoffensive auf syrischem Gebiet. Sein Land werde "zum für uns günstigen Zeitpunkt von Land aus hart gegen Terroristen vorgehen", sagte Erdogan Ende November.

Es wäre die vierte türkische Militärintervention der Türkei in Syrien seit 2016. Zuletzt entsendete Erdogan 2019 Soldaten in die von Kurden kontrollierte Grenzregion, nachdem der damalige US-Präsident Donald Trump den Abzug seiner Truppen befohlen hatte. Heute ist das Momentum erneut auf Erdogans Seite. Der Krieg in der Ukraine hat das regionale Machtgefüge zu seinen Gunsten verändert.

"Russland war in Syrien immer in einer Position der Stärke. Doch inzwischen hat die Türkei die Oberhand", sagt Hamidreza Azizi von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Der Ukraine-Krieg verschlinge weite Teile der russischen Kapazitäten. "Die Türkei glaubt nicht mehr, dass Russland ihre Interessen in Syrien schützt. Zugleich schafft es Moskau nicht mehr, Ankara von einer Militäroperation am Boden abzubringen", sagt der Nahost-Experte ntv.de.

Noch hält Moskau dagegen

Dennoch bräuchte Erdogan für eine Bodenoffensive grünes Licht aus Moskau, das weite Teile des syrischen Luftraums kontrolliert und wichtigster Verbündeter des Machthabers Baschar al -Assad ist. "Wir hoffen, dass unsere Argumente in Ankara gehört werden und andere Wege zur Lösung des Problems gefunden werden", sagte der russische Unterhändler Alexander Lawrentjew.

Mit den jüngsten Truppenverlegungen will Russland seiner Position offenbar Nachdruck verleihen. Experten werten dies als Versuch, eine türkische Invasion zu verhindern oder mindestens zu verzögern. "Russland will auf dem Boden nochmal Fakten schaffen und sich zu erkennen geben", sagt auch Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker im Gespräch mit ntv.de.

Denn für Putin gerät Syrien immer mehr zum Drahtseilakt. Zwar sieht er sich offenbar gezwungen, Erdogan den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Gleichzeitig ist der Kreml-Chef auch von ihm abhängig. Während der Westen Russland mit Sanktionen belegt, floriert der Handel zwischen Moskau und Ankara. Beide Länder schlossen etwa einen gemeinsamen Energiedeal. Als NATO-Mitglied fungiert die Türkei zugleich als Brücke zwischen Russland und dem Westen, konnte beim Streit um Getreidelieferungen sogar als Vermittler auftreten.

Erdogan hat Probleme im eigenen Land

Putin hat in seiner politischen Isolation ein großes Interesse daran, die Beziehungen zu Erdogan aufrechtzuerhalten. Der steht jedoch innenpolitisch unter Druck. Die Rekordinflation lässt seine Beliebtheit im Land schwinden. Trotz geknebelter Opposition könnten ihm die Wahlen im nächsten Jahr gefährlich werden. Mit altbewährten Mitteln versucht Erdogan, das Ruder herumzureisen: militärischem Säbelrasseln und Stimmungsmache gegen die Kurden.

Dank seiner außenpolitisch gestärkten Position kann Erdogan ein lang gehegtes Ziel forcieren: die Eroberung eines 30 Kilometer langen Streifens im syrischen Grenzgebiet. Mit diesem will er sich die faktisch autonome kurdische Region in Nordsyrien vom Leib halten. Zudem plant Erdogan, dort syrische Flüchtlinge anzusiedeln, die sich derzeit in der Türkei aufhalten. Zumindest aus der Luft lässt Russland ihn bislang gewähren. "Putin muss Zugeständnisse machen, und das macht er auf dem Rücken der Schwächsten, das sind die Kurden und andere Minderheiten", sagt Sido.

Dass Russland nun Truppen in die Region verlegt, dürfte auch auf den Verbündeten Assad zurückführen sein. Der verdankt seine Macht der schützenden militärischen Hand des Kremls. "Bei den türkischen Angriffen sind auch syrische Soldaten ums Leben gekommen. Die Assad-Regierung macht den Russen Vorwürfe, nicht entschieden genug zu handeln", sagt Sido. Als Versuch eines Kompromisses wird gewertet, dass Erdogan kürzlich seine Bereitschaft signalisiert hatte, sich mit Assad zu treffen. Beide sind seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien eigentlich ärgste Feinde. Sollten Erdogan und Assad eine mögliche Invasion gemeinsam abstecken, wäre das für den Kreml die vorteilhafteste Lösung. Verhandelt werde darüber ohnehin schon längst im Hintergrund, so Sido.

"Washington bereitet sich bereits vor"

Mitzureden haben in Syrien jedoch auch die USA, die die kurdisch dominierten Demokratischen Kräfte Syriens unterstützen. Man lehne eine neue türkische Operation entschieden ab, sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin im Gespräch mit seinem türkischen Amtskollegen Hulusi Akar. Allerdings hat auch für die USA der Ukraine-Krieg Priorität. Erdogan nutzt sein Veto beim NATO-Beitritt von Finnland und Schweden als willkommenes Druckmittel.

Zudem sind die USA besorgt über ein Wiedererstarken der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). In den kurdisch kontrollierten Gebieten sitzen Tausende IS-Kämpfer im Gefängnis, die freikommen könnten, sollte die YPG weiter zurückgedrängt werden. Am Ende hätten aber auch die USA dem NATO-Verbündeten Türkei wenig entgegenzusetzen, sagt Azizi. "Washington bereitet sich bereits auf eine türkische Bodenoffensive vor".

Es liegt daher nahe, dass sowohl Washington als auch Moskau einer räumlich begrenzten türkischen Operation zustimmen könnten. Das würde zusätzliche Verhandlungen mit den Kurden voraussetzen. "Sie müssten ihre Truppen auf mindestens 30 Kilometer von der türkischen Grenze zurückziehen", sagt Azizi. Die jüngste russische Truppenverschiebung sei auch ein Signal an Ankara, ein Limit einzuhalten. "Russland will sichergehen, dass die Türkei im Fall einer Bodenoffensive ein gewisses Territorium nicht überschreitet."

Ähnlich schätzt der US-Experte Howard Eissenstat die Lage ein: "Unter den gegenwärtigen Umständen können Russland oder die USA dem türkischen Vorgehen vielleicht Grenzen setzen, aber sie können es nicht ganz verhindern", sagt der Historiker der St. Lawrence University im US-Bundesstaat New York dem Magazin "Politico". Allein das zeugt von einer neuen Stärke, die die Türkei auf dem geopolitischen Parkett innehat und die Russland - zumindest in Syrien - fehlt.