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Erster Bundesliga-Abstieg droht: Chaos als neue Tradition bei Turbine Potsdam

Turbine Potsdam ist viele Jahrzehnte ein Garant für besonders guten und erfolgreichen Fußball bei den Frauen. Siege, Pokale, Titel gibt es zuhauf - doch in dieser Saison ist der Bundesligist ein Abstiegskandidat. Der Klub versinkt im Chaos. Kurz vor dem Restart kündigt auch noch der Trainer.

Meisterschaften in Serie, Pokalsiege in Serie, dazu zwei internationale Titel in der heutigen Champions League. Turbine Potsdam. Ein Name, wie ein stolzer Ausruf. Tradition, DDR-Tradition gar. Ein reiner Frauenfußball-Klub, der sich im Reigen der Lizenzvereine, die auch Frauen-Teams haben, oben hält. Bis jetzt. Denn Turbine Potsdam zerbröselt nicht langsam, der Klub zerschellt in dieser Saison krachend.

Dort, wo einst unzählige Siege gefeiert wurden, ist die neue Realität eine ganz bittere. Auch wenn die ganz großen Erfolge schon länger zurückliegen, hatten die Brandenburgerinnen im vergangenen Jahr nur knapp die Qualifikation zur Königsklasse verpasst. Nun aber läuft nichts mehr zusammen. Tabellenschlusslicht, nur ein Punkt aus zehn Spielen, das rettende Ufer schon neun Punkte entfernt. Es droht der erste Abstieg aus der Bundesliga überhaupt. Auch das Aus im DFB-Pokal war schon im Achtelfinale besiegelt.

Trainer verlässt plötzlich den Klub

Zum Liga-Restart an diesem Wochenende verließ auch noch Interimstrainer Sven Weigang den Klub. "Ich bin damit fein, ich wollte helfen, aber es hat nicht gepasst", wird er von der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" zitiert. Damit steht Turbine vor der Partie gegen den Tabellenzweiten FC Bayern (13 Uhr im ntv.de-Liveticker) ohne Trainer da. Wieder einmal. Weigang war ohnehin schon nur der Ersatz für den im Oktober entlassenen Sebastian Middeke gewesen, der seinen Posten erst im Sommer angetreten hatte. Es gibt wenig, was Hoffnung macht in Potsdam. Ruhe und Beständigkeit kennt der Verein schon seit Längerem nicht mehr.

Spätestens im Sommer 2021 schwappte die Unruhe in die Öffentlichkeit. Damals hatte Ex-Spielerin Tabea Kemme nach ihrem Karriereende ihren Hut in den Ring geworfen, sie wollte neue Präsidentin bei ihrem früheren Verein werden, neue Ideen und Veränderungen anstoßen. Zehn Stimmen fehlten der heute 31-Jährigen schließlich gegen den damaligen Amtsinhaber Rolf Kutzmutz, es sei ein "dreckiger Wahlkampf" gewesen, resümierte Kemme anschließend im "Spiegel". Sie sei nicht "gegen jemanden angetreten, sondern für die Sache, für den Verein", doch das hätten offenbar nicht alle verstanden. So habe sich etwa der langjährige Erfolgsgarant Bernd Schröder gegen seine frühere Spielerin gerichtet. Es ging ihm "um Machtverlust, um Stolz, Egoismus. Er hatte Angst, seine Lebensaufgabe zu verlieren", urteilte Kemme, die anschließend aus dem Verein austrat und mit ihrem Engagement abgeschlossen hat.

Tabea Kemme gegen ihren Ex-Trainer Bernd Schröder

Die Altvorderen blieben also am Hebel, doch es wurde nicht mehr wie früher. Im vergangenen Sommer kam es dann zum großen Krach, vieles geriet außer Kontrolle. Trainer Sofian Chahed wurde überraschend ein halbes Jahr nach seiner Vertragsverlängerung entlassen, das nahm Kutzmutz persönlich und trat ebenfalls zurück. Zudem verließ ein Großteil des Kaders den Verein. Offensichtlich hätten die Spielerinnen "keine profunde Zukunft bei Turbine gesehen", sagte der inzwischen neue Präsident Karsten Ritter-Lang dem Sportinformationsdienst. Ein Riesenumbruch, der kaum zu stemmen ist, musste eingeleitet werden. Von "Turbulenzen" und "Irritationen" sprach Ritter-Lang.

Ex-Spielerinnen klagten gegenüber dem RBB über schlechte Platz- und Trainingsbedingungen, Kommunikationsprobleme, sowie fehlende Anpassung an den modernen Fußball. "Wir hatten nicht das Gefühl, dass wir uns nur auf den Fußball konzentrieren können", sagte demnach eine der Frauen, die ihre Namen nicht veröffentlicht wissen wollten. "Wir haben viele Gespräche geführt, sehr, sehr oft die gleichen Themen angesprochen, dass wir mehr Personal brauchen und die Bedingungen sich verändern müssen", sagte eine weitere Ex-Spielerin.

Wolfsburg und Bayern dominieren

Der völlig neu aufgestellte Kader veranlasste die Experten schon vor dem Saisonstart zu besorgten Abgesängen. Statt Nationalspielerinnen kamen eher unbekannte, junge Kräfte neu in den Verein - dann fielen auch noch reihenweise Verletzte aus. Die Belastungssteuerung sei "leider in den Sommermonaten bis in den Oktober hinein nur mäßig berücksichtigt worden", so Ritter-Lang. Auch Verteidigerin Wibke Meister klagte bei Magenta Sport im Nachhinein darüber, dass das Team in der Vorbereitung keine Grundlagen gelegt habe. Einer der Gründe, weshalb man mit Middeke nicht habe weitermachen können, so Ritter-Lang.

Der Präsident urteilte selbst: "Der Verein ist implodiert." Bekannte und erfolgreiche Spielerinnen lockt dies wenig. Auch in der Winter-Transferperiode kamen vier junge Frauen nach Potsdam, die sich allesamt noch keinen großen Namen machen konnten. Eine rosige Zukunftsperspektive bieten längst andere Klubs. Mit der SGS Essen gibt es nur noch einen weiteren reinen Frauenfußball-Verein in der Liga, dominant sind seit Jahren der VfL Wolfsburg und der FC Bayern. Auch Eintracht Frankfurt mausert sich immer weiter zu einem Topklub, seit der Fusion mit dem 1. FFC Frankfurt geht es mit mehr Unterstützung für den einstigen Traditionsverein wieder bergauf. Aus der 2. Liga drängt mit RB Leipzig zudem ein weiterer hochkarätiger Männer-Lizenzverein nach oben, die Frauen verpassten den Aufstieg nur knapp.

"Die Vereine, die stecken sehr viel Herzblut in das rein, was sie machen. Von daher bin ich da schon irgendwie auch ein bisschen traurig, dass die Vereine vielleicht irgendwann nicht mehr geben wird in der Bundesliga", sagte die heutige Spielerberaterin Lena Goeßling gegenüber ntv.de über die weniger werdenden reinen Frauen-Teams. "Aber die Lizenzvereine haben einfach irgendwann langfristig bessere Bedingungen. Die haben einfach andere Möglichkeiten dann auch und die hat Potsdam nicht mehr, Essen halt auch nicht mehr."

Bei Turbine fällt im anstehenden Sommer auch noch die Kooperation mit Hertha BSC weg, diese beenden die Berliner nach drei Jahren, weil sie selbst eine Frauen-Abteilung aufbauen wollen. Damit fehlt dem Klub künftig eine sechsstellige Summe, kolportiert werden 250.000 Euro. In einer Liga, in der der teuerste Wintertransfer 50.000 Euro kostete (Tuva Hansen zum FC Bayern), ist das ein großer Batzen Geld.

Abstiegsangst ist akut

Doch das Problem liegt noch in der Zukunft, es gibt genug Probleme, die ganz aktuell existieren. Allen voran die akute Abstiegsgefahr: Nicht über dieses Szenario nachzudenken, "wäre mehr als realitätsfern", sagte auch Ritter-Lang. Im Spiel gegen die Bayern sind die Potsdamerinnen klare Außenseiterinnen. "Vielleicht ist es aber auch nicht verkehrt, dass wir erst recht nichts zu verlieren haben in dem Spiel, sondern relativ befreit aufspielen können", so Torhüterin Vanessa Fischer dem RBB. "Wir haben nichts zu verlieren. Tiefer können wir nicht abstürzen", sagte Dirk Heinrichs, seit 20 Jahren Co-Trainer bei Turbine.

Fischer betonte: "Die wichtigen Spiele kommen danach gegen Duisburg und Bremen, wo wir Punkte mitnehmen müssen." Bremen liegt mit vier Punkten nur einen Tabellenplatz besser als Turbine, Duisburg als Zehnter auf dem ersten Nicht-Abstiegsplatz hat immerhin schon zehn Punkte auf dem Konto. "Wenn jemand anfängt zu zweifeln, hat es keinen Sinn", sagte Heinrichs. "Der Glaube muss da sein, sonst bräuchten wir gar nicht mehr spielen", sagte auch Meister bei Magenta Sport. Sie erklärte allerdings auch: "Wenn man nur einen Punkt nach zehn Spielen hat, dann muss man nicht sehr helle sein, dass es für uns schwierig ist."

Optimismus im Chaos

Das sehen auch andere so: "Ich drücke natürlich die Daumen, dass sie die Klasse halten, aber das wird eine echt schwierige Aufgabe", sagte Ex-Spielerin Ariane Hingst, inzwischen Co-Trainerin der U19- und U20-Frauen beim DFB sowie engagiert beim Berliner Projekt Viktoria Berlin bei Sport 1. "Ich glaube, dass Potsdam leider viel zu lange in der Vergangenheit gelebt und es verpasst hat, sich weiterzuentwickeln, auch strukturell weiterzuentwickeln. Der Umbruch wurde verpennt", sprach sie offen aus, was Kemme aktiv angehen wollte, was auch andere Ex-Spielerinnen beim RBB kritisierten.

"Natürlich tut es mir echt weh, zu sehen, was aus dem Verein geworden ist", sagte Hingst und hofft auf eine Trendwende: "Ich bin schon viel zu lange im Fußballgeschäft, um nicht zu wissen, dass Unmögliches auf einmal möglich werden kann. Totgesagte leben länger." Mit Optimismus wagt auch Ritter-Lang den Restart: Auch wenn ein Abstieg "ein Zeitpunkt für den absoluten Neustart" sein könne, sei sich Ritter-Lang sicher, "dass wir den jetzt schon schaffen". Das sagte er allerdings, bevor Weigang plötzlich hinwarf. Das Chaos ist die neue Tradition bei Turbine.