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Europäische Schulden-Träume – „Von der Leyens Fantasie kennt keine Grenzen“

Europa diskutiert wieder über neue gemeinsame EU-Schulden. Auslöser ist diesmal eine Rede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die sie am Sonntag vor den Absolventen des College of Europe gehalten hatte. Das College besuchen in der Regel junge Menschen, die nach ihrem Studium bei der Europäischen Kommission oder – weniger gern – bei einer der anderen EU-Institutionen arbeiten wollen.

Ihnen erklärte sie, wie sie sich die Antwort der EU auf den „Inflation Reduction Act“ von US-Präsident Joe Biden vorstellt. Das Paket aus Subventionen und protektionistischen Maßnahmen will sie nicht nur mit weiteren Subventionen, einfacheren Beihilfe-Regeln auf EU-Ebene und Verhandlungen mit den USA lösen, sondern auch mit einem neuen Geldtopf auf EU-Ebene: einem europäischen Souveränitätsfonds.

Der Topf, den sie bereits im September in ihrer jährlichen Rede zur Lage der EU angekündigt hatte, trägt im Namen eine Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Der hatte bereits kurz nach Beginn seiner ersten Amtszeit ebenfalls in einer Rede vor Studenten seine Vision von der sogenannten „strategischen Souveränität“ Europas umrissen – einer EU, die militärisch, wirtschaftlich und technologisch weitgehend autonom von China und den USA ist.

Diese Vision treibt Macron auf EU-Ebene seit Jahren beharrlich voran und hat dafür in Brüssel bereits viele Verbündete gewonnen. Und das nicht nur in der Politik. Vielen Managern großer europäischer Unternehmen gefällt die Vorstellung eines stärker abgeschotteten, mit Staatshilfen aufgepumpten EU-Marktes.

Zur Finanzierung des Topfes hat sich von der Leyen bisher nur vage geäußert. Das hat Industrie- und Binnenmarktkommissar Thierry Breton übernommen, der von Macron nach Brüssel geschickt wurde. Er führte schon im September aus, wie er sich die Finanzierung des Souveränitätsfonds vorstellt: mit neuen gemeinsamen Schulden der EU-Staaten.

„Ich glaube, wir sollten über die Möglichkeit nachdenken, den Fonds durch gemeinsame Schulden zu finanzieren, so wie wir es erfolgreich bei NextGeneration EU gemacht haben“, schrieb Breton damals auf seinem Blog. NextGeneration EU (NGEU) ist der offizielle Name des inzwischen rund 807 Milliarden Euro schweren EU-Wiederaufbauprogramms nach der Corona-Krise, deren Kernstück der mit gemeinsamen Schulden finanzierte Corona-Wiederaufbaufonds ist.

Quelle: Infografik WELT

Der Blog-Eintrag von Breton aus dem September ist geradezu symptomatisch dafür, dass vor allem Politiker aus fiskalisch klammen EU-Staaten regelmäßig neue gemeinsame EU-Schulden fordern. Weniger als ein Jahr nachdem Merkel, Macron und die übrigen 25 EU-Staats- und Regierungschefs sich auf einem mehrtägigen Mammut-Gipfel im Juli 2020 auf den Wiederaufbaufonds geeinigt hatten, ging es los. Im Mai 2021 beispielsweise forderten die europäischen Grünen neue gemeinsame Schulden, um die – zweifelsohne – gewaltigen Investitionen zu finanzieren, die für die Energie- und Klimawende nötig sein werden.

Sie unterstützen auch die Idee eines Industriefonds. „Wir dürfen unsere Industrie bei den Zukunftsaufgaben nicht alleine lassen“, sagt Rasmus Andresen, Sprecher der deutschen Grünen im EU-Parlament. „Dazu gehört auch ein grüner Industriefonds, der unsere Unternehmen beim Umbau zur klimaneutralen Wirtschaft unterstützt, Innovationen fördert und Zukunftsjobs schafft.“

Seitdem kommen die Rufe nach neuen gemeinsamen EU-Schulden in rascher Folge. Nur die Anlässe ändern sich: Im Frühherbst vergangenen Jahres waren es die bereits damals hohen Gas- und Stromkosten. Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine dann die neuen Verteidigungsaufgaben. Und bis vor wenigen Wochen verlangten der damalige italienische Ministerpräsident Draghi und andere Regierungschefs einen neuen schuldenfinanzierten EU-Topf um die nationalen Energiehilfen zu finanzieren.

Quelle: Infografik WELT

Zuletzt forderten Breton und EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni neue gemeinsame Schulden um Hilfskredite an EU-Staaten zu vergeben, die mit den Energiehilfen überfordert sind – wohlwissend, dass die stärkeren Länder einem Fonds, der einfach nur Geld verteilt, ohnehin nicht zustimmen würden.

„Die inzwischen inflationären Forderungen nach neuen EU-Schulden für fast jeden beliebigen Zweck zeigen, dass es den Befürwortern immer schon um mehr gegangen ist: um die allgemeine EU-Verschuldungskompetenz“, sagt Friedrich Heinemann, Leiter des Bereichs öffentliche Finanzierung beim Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZEW). „Letztlich waren die EU-Schulden für Corona nur ein Testballon für eine umfassende europäische Kreditfinanzierung.“

Nordeuropäer wehren sich gegen neue Schulden

Deutschland, die Niederlande und andere Mitgliedstaaten stemmen sich gegen derlei neue Schulden. Die Abwehrstrategie von Bundeskanzler Olaf Scholz und fiskalisch konservativen Politikern: Statt neuer EU-Schulden könnte Geld aus dem bestehenden Corona-Wiederaufbauprogramm NextGenerationEU genutzt werden. Bisher ist erst rund ein Fünftel der Mittel aus dem Fonds ausgezahlt. Und ohnehin müsste, wenn das letzte Geld aus dem Wiederaufbaufonds ausgegeben ist, erst einmal untersucht werden, ob der Milliarden-Topf überhaupt so funktioniert hat, wie er sollte.

Kritik kommt auch aus dem Europäischen Parlament. „Der Souveränitätsfonds ist eine Idee aus dem Elysée Palast, mit dem ein Teil der französischen Staatsausgaben auf EU-Ebene ausgelagert werden soll“, sagt Markus Ferber, der wirtschaftspolitische Sprecher der christdemokratischen EVP-Fraktion. „Diese Idee sollte sich die Kommissionspräsidentin nicht zu eigen machen. Es kann nicht sein, dass die Antwort der Europäischen Kommission auf jedes Problem darin besteht, einen neuen schuldenfinanzierten Fonds vorzulegen.“

Auch in der FDP-Fraktion des EU-Parlaments gibt es wenig Verständnis für den Vorstoß. „Von der Leyens Fantasie kennt keine Grenzen, wenn es ums Schuldenmachen geht“, sagt der Haushaltspolitiker Moritz Körner. „Souveränität in strategisch essenziellen Sektoren ist sinnvoll, muss aber nicht durch neue Schulden finanziert werden. Statt Verboten, Subventionen und Schulden sollte Europa wieder Innovation, Freihandel und Wettbewerbsfähigkeit zum Kern der Wirtschaftspolitik machen.“

Olaf Scholz, selbst einer der Geburtsväter des Wiederaufbaufonds, verweist regelmäßig darauf, dass der Fonds zunächst als eine einmalige Hilfsmaßnahme in der Corona-Pandemie gedacht war, aber keinesfalls als Dauereinrichtung. Aus seiner Partei kommen ebenfalls skeptische Stimmen zum Vorhaben von der Leyens.

„Ich frage mich, woher wir das Geld dafür nehmen sollen. Bei all den Fonds, die in letzter Zeit auf EU-Ebene angelegt werden sollen, verliert man inzwischen ein wenig den Überblick“, sagt Bernd Lange, der Vorsitzende des Handelsausschusses im EU-Parlament. „Wir müssen außerdem aufpassen, dass wir keine Subventionspolitik nach dem Gießkannenprinzip machen.“

Quelle: Infografik WELT

Wenn Scholz zu dem Thema Stellung bezieht, hat er auch einen Termin im Auge: Dienstag, den 6. Dezember 2022. Dann entscheidet das Bundesverfassungsgericht auf Antrag mehrerer Kläger über die Rechtmäßigkeit des Corona-Wiederaufbaufonds. Das Urteil der obersten deutschen Richter wird entscheidend sein dafür, wie die Debatte über gemeinsame EU-Schulden weitergeht.

Beobachter halten beispielsweise für möglich, dass die Richter die einmalige Verschuldung in einer extremen Notlage wie der Corona-Pandemie für zulässig erklären, aber grundsätzlich die dauerhafte gemeinsame Verschuldung auf EU-Ebene ausschließen. Das würde der weiteren Diskussion einen erheblichen Dämpfer verpassen oder sie gar beenden.

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