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Fachkräftemangel: „Arbeitnehmer wollen nicht nur Geld, sondern auch einen Sinn“

Deutschland bemüht sich händeringend, das Problem des Fachkräftemangels in den Griff zu bekommen – bislang erfolglos. Vorbild sind skandinavische Länder. Wie das finnische IT-Beratungsunternehmen Solita das Problem gelöst hat, erklärt Deutschland-Chef Florian Disson

Herr Disson, als schnell wachsendes junges IT-Beratungshaus, das nicht nur in Deutschland, sondern in Dänemark, Belgien und Estland expandiert, sucht Ihr Unternehmen auf einem hart umkämpften Fachkräftemarkt nach Nachwuchs. Wie gut funktioniert das?
FLORIAN DISSON: Für uns sehr gut. Aber richtig ist, dass unsere Branche wahrscheinlich einer der am härtesten umkämpften Märkte ist. Mittelständische und große Unternehmen haben gut gefüllte Kassen, dazu gehören die Automobilindustrie, die produzierende Industrie und der Maschinenbau. Und alle brauchen gute Datenfachkräfte. Das größte Argument unserer Konkurrenten ist Geld. Ein großes Pharmaunternehmen kann einem Senior-Berater, der auf so ein wichtiges Thema wie Stammdaten-Management spezialisiert ist, substantiell mehr bezahlen als unser Unternehmen. Aus diesem Grund müssen wir etwas anderes bieten.

Was könnte besser ziehen als viel Geld?
Wir wollen unseren Beschäftigten eine sinnvolle Tätigkeit geben. Sie sollen sich auch weiterentwickeln können. Ich glaube tatsächlich, dass das der Grund ist, warum es insgesamt so viele offene Stellen in der IT gibt - insbesondere in der Industrie -, aber nicht bei uns. Der IT-Markt wird immer globaler. In Estland weiß man, was man in Deutschland verdient. Das heißt, die Leute gehen dahin, wo es am besten für sie ist. In der Corona-Zeit haben sie auch begriffen, dass nicht nur Geld, sondern auch andere Dinge wichtig sind. Deswegen muss man mehr als Geld bieten: spannende Projekte, gute Arbeitsbedingungen und eine Kultur, die es möglich macht, eine gute Zeit zu haben.

Spiel, Spaß, Spannung - damit fischen sie die raren Arbeitskräfte vom Arbeitsmarktmarkt?
Es ist mehr als das. Wichtig ist, Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, selber autonom zu entscheiden. Wir sagen, du kannst alle Entscheidungen treffen, die gut für mich, für dich, für unsere Kunden, für unser Unternehmen sowie für die Welt heute und morgen sind. Wenn du alle diese Kriterien beantworten kannst, kannst du alles tun, ohne zu fragen. Das bedeutet auch, dass die Beschäftigten ihre Karriere selbst gestalten können. Sie entscheiden, ob sie Führungsverantwortung übernehmen oder sich als Techniker weiterentwickeln wollen. Es gibt keine linearen Entscheidungen oder Karrieren.

Und das können alle auf Anhieb?
Das fällt nicht allen leicht. Viele, die neu sind, brauchen Anleitung. Deswegen gibt es parallel auch Prozesse und Tools.

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In welcher Form?
Gemeint sind Werkzeuge, durch die man Selbstführung lernt. Also wie kann ich jemand werden, der selbstbewusst und autonom Entscheidungen trifft? Mitarbeiter können dafür Coachings buchen. Es gibt extrem viel Weiterbildung. Auch eine eigene Akademie, in der wir unsere Nachwuchskräfte selbst ausbilden und heranziehen.

Es gibt immer mehr Unternehmen, die es mit neuen Arbeitszeitmodellen, wie der Vier-Tage-Woche versuchen, Mitarbeiter zu finden. Spielt das eine Rolle bei Ihnen?
Die Beraterbranche ist speziell. Wir verkaufen ja die Stunden, die Mitarbeiter arbeiten, an die Kunden. Deshalb gibt es bei uns die klassische 40-Stunden-Woche. Aber insgesamt kontrollieren wir eher Ziele als Zeit. Es gibt auch noch andere Vorteile: Wir haben beispielsweise eine Auslastung unserer Beschäftigten zwischen 70 und 80 Prozent Arbeit und 20 Prozent Weiterbildung festgelegt. Außerdem dürfen sie im gesetzlichen Rahmen innerhalb der EU von überall aus arbeiten.

Ein Phänomen, das Arbeitsmarktexperten derzeit beobachten, ist, dass Beschäftigte immer wechselfreudiger werden. Können Sie das bestätigen?
Diese Wechselfreudigkeit kommt in Wellen. Wegen Corona sind die Menschen erstmal in ihren Jobs geblieben und haben abgewartet. Nach Corona, als die Bindung ans Unternehmen etwas verloren ging, haben sich viele überlegt, woanders hinzugehen. Jetzt gerade herrscht wieder Unsicherheit wegen des Ukraine-Kriegs und der Bankenkrise. Die Leute wollen wieder dahin, wo sie sich wohlfühlen. Für uns gilt, je länger wir hier in Deutschland sind und je mehr Netzwerk wir haben, desto mehr stoßen Leute über Empfehlungen und Mund-zu-Mund-Propaganda zu uns.

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Wie lange bleiben die Leute im Schnitt bei Ihnen?
Im finnischen Markt haben wir die niedrigste Fluktuation im ganzen IT-Sektor. Die Leute bleiben durchschnittlich drei bis fünf Jahre. Es gibt allerdings auch welche, die seit 20 Jahren bei uns sind. Dabei muss man natürlich sehen, dass wir vor zweieinhalb Jahren nur 800 Leute waren, jetzt 1690, also schnell wachsen.

Sie haben auch ein Aktienprogramm für Mitarbeiter. Wie funktioniert das?
Der Private-Equity-Investor Apax, dem Solita gehört, gibt allen Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit, Anteile am Unternehmen zu erwerben, also selber Investor oder Investorin zu werden und so an der Wertentwicklung des Unternehmens zu partizipieren. Wir sind nicht an der Börse. Aber angenommen, Solita ginge an die Börse und der Wert würde steigen, dann würden die Beschäftigten, die sich beteiligt haben, profitieren.

Und wie viele machen das?
Derzeit sind es 667. Damit wollen wir auch die Bindung zum Unternehmen erhöhen. Wer geht, verliert seine Anteile und bekommt nur eine feste Verzinsung zurück.

Es gibt die These, dass es gar keinen echten Fachkräftemangel gibt, sondern Arbeitgeber einfach zu wenig zahlen oder insgesamt zu wenig zu bieten haben. Wie sehen Sie das?
Wichtig ist zu begreifen, dass Unternehmen wachsen, wenn die Mitarbeiter wachsen. Wenn wir Menschen Jobs bieten, die zu ihnen passen, und die es ihnen erlauben, sich zu entwickeln, dann kommen sie. Sehen Sie, wir geben auch Menschen eine Chance zu lernen, die noch nicht hundert Prozent IT können, wenn wir wirklich glauben, jemand möchte das lernen. Dafür haben wir ja die Akademien. Das ist ein weiterer Grund, warum wir keinen Fachkräftemangel haben. Wir ziehen uns selbst den Nachwuchs heran.

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Sie sagen also, es gäbe mehr Fachkräfte, wenn Unternehmen sich mehr Mühe geben würden, die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auch abzuholen?
Natürlich. Wer mehr als Geld bietet, findet auch Fachkräfte. In Skandinavien kommt der Mensch immer zuerst. Wir machen alle drei Wochen eine Mitarbeiterbefragung. Eine Frage, die wir immer stellen, ist: Wenn du irgendwo für denselben Job mehr Geld bekommen würdest, wie wahrscheinlich ist es, dass du Solita verlassen würdest? Gewöhnlich kommt die Antwort: Jeder hat seinen Preis. Diese Woche hat aber jemand ergänzt: "Dieser Preis ist weit nach oben gegangen. Man müsste mir sehr viel mehr Geld bieten, als ich jetzt habe, um diesen Job zu machen." Ich finde, das war die beste Antwort, die ich bisher gesehen habe.

Und das hat Finnland als erstes begriffen?
Ich arbeite seit 20 Jahren mit skandinavischen Unternehmen. Sie waren immer deutlich weiter, Ansätze zu finden und neue Wege zu gehen, um Arbeit kreativ, nützlich und wirkungsvoll zu machen. Ich bin überzeugt, dass dieser Ansatz tief in den nordischen Gesellschaften verankert ist, mehr als bei uns.

Das Interview ist zuerst bei ntv.de erschienen

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