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Grünen-Landrat kritisiert Flüchtlingspolitik: "Unsere Ressourcen sind am Ende"

Immer mehr Kommunen schlagen Alarm: Sie sind überfordert mit der Unterbringung von Geflüchteten. Ein bayerischer Landrat kritisiert Bund und Länder im Interview scharf.

In diesen Tagen erreichen einige Brandbriefe das Bundeskanzleramt. Sie stammen von Kommunalpolitikern, die Alarm schlagen: Sie seien überfordert mit der Unterbringung von Geflüchteten in ihrem Kreis oder ihrer Gemeinde. Ihr Vorwurf: Bund und Länder ließen die Kommunen im Stich. Der Kanzler solle eingreifen, das Thema zur Chefsache machen.

Jens Marco Scherf hat einen solchen Brandbrief Mitte Januar geschrieben. Der 48-Jährige ist vor acht Jahren überraschend zum Landrat im fränkischen Miltenberg gewählt worden und zählt damit zu den wenigen Landräten der Grünen in Bayern. Er warnt in seinem Brief an den Kanzler: Die Belastungsgrenze sei weit überschritten und Kommunen schlicht nicht in der Lage, noch mehr Menschen aufzunehmen.

Wo liegen die Probleme? Wo sieht Scherf Lösungen? Ein Gespräch über umstrittene Notunterkünfte, seine Erwartungen an den geplanten Flüchtlingsgipfel und die Stimmung in seiner Kommune.

t-online: Wie steht es um die Unterbringung von Geflüchteten in Ihrem Landkreis?

Jens Marco Scherf: Die Lage ist prekär. Wir haben einen dramatischen Wohnungsmangel im Kreis und keinen Platz für Unterkünfte, aber es fehlt auch an vielem anderem. Unsere Ressourcen sind am Ende.

Befürchten Sie Verteilungsängste?

Das sind keine Ängste, das sind handfeste Verteilungsprobleme. Wir haben schon für die Regelbevölkerung viel zu wenig Wohnungen, zu wenig Ärzte, nicht genügend Plätze und Betreuungsmöglichkeiten in Kindergärten und Schulen. Integration gelingt nicht unter solchen Umständen. Man muss sich bemühen können, man muss Kraft und Zeit hineinstecken. Das können wir zurzeit gar nicht.

Jens Marco Scherf: Seit 2014 ist er Landrat für die Grünen in Bayern. (Quelle: ANNA HORNSTEIN FOTOGRAFIE )

Zur Person

Jens Marco Scherf, 48 Jahre alt, ist seit 1994 Mitglied bei den Grünen. Seit 2014 ist er Landrat im Landkreis Miltenberg. Zunächst wurde er in einer Stichwahl mit nur knapp 50 Prozent der Stimmen gewählt, 2020 wurde er dann mit 69 Prozent Zustimmung wiedergewählt. Scherf hat Lehramt studiert, arbeitete an verschiedenen Schulen und war ab 2008 Rektor der Verbandsschule Faulbach. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.

Haben Sie deswegen einen Brandbrief an den Kanzler geschrieben?

Es ist meine Pflicht als Kommunalpolitiker, zu sagen: Achtung, Stopp! Wir kriegen hier ein riesengroßes Problem.

Wie viele Geflüchtete hat Ihr Landkreis im vergangenen Jahr aufgenommen?

Etwa 1.600 Leute aus der Ukraine, dazu etwa 500 Menschen aus Afghanistan und Syrien. Wir haben außerdem etwa 800 Geflüchtete aus den Jahren 2015 und 2016, die noch Betreuungsbedarf haben. Seit Januar müssen wir weitere Menschen aufnehmen, weil die Ankerzentren in Bayern voll sind. Deswegen haben wir in der vergangenen Woche unsere erste Notunterkunft geöffnet.

Waren Sie darauf vorbereitet?

Wir haben bereits im vergangenen Herbst ein leerstehendes Schulgebäude als Reserve angemietet. Das war mir ein großes Anliegen. Ich wollte unbedingt vermeiden, Turnhallen zu belegen. Trotzdem ist die öffentliche Stimmung in Bezug auf die Notunterkunft zum Teil sehr kritisch.

Wir haben die Notunterkunft von der Stadt angemietet mit Blick auf eine mögliche weitere Eskalation in der Ukraine. Aus der Ukraine kommen aber inzwischen weniger Menschen, stattdessen ist der Zuzug aus Syrien und Afghanistan wieder gestiegen. Jetzt werden in die Notunterkunft vor allem alleinstehende Männer einziehen. Für die Bevölkerung war das erst einmal ein Schreck.

Seit letzter Woche leben dort 30 junge Männer und benehmen sich tadellos. Aber: Die Sorgen in der Bevölkerung sind da, die lassen sich nicht wegreden.

Sie sind nicht der einzige Kommunalpolitiker, der wegen des Drucks Alarm schlägt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat für diese Woche deswegen hastig einen Flüchtlingsgipfel angesetzt. Was erhoffen Sie sich davon?

Wenig. Diese Gipfel werden immer unter Druck einberufen, dann bleibt es in der Regel bei einem einmaligen Treffen und reinen Ankündigungen. Es braucht aber einen Diskurs auf der Fachebene, Arbeitsgruppen zu ganz unterschiedlichen Themen, die mit Menschen aus der Praxis von allen Ebenen besetzt sind. Und das Allerwichtigste: Sie müssen dauerhaft im Gespräch bleiben und sich eng beraten.