Germany
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Historiker erklärt: "Genau dann wird der Krieg enden"

Lässt sich das Nachkriegsdeutschland wirklich mit dem Russland von heute vergleichen?

Es gibt durchaus Parallelen. Wenn wir die eigentlich aussichtslose Lage Deutschlands in den Kriegsjahren 1943, 1944 und sogar noch 1945 betrachten, ist es erstaunlich, wie viele Deutsche damals noch an Adolf Hitler und an einen Sieg glaubten. Es war tatsächlich die verheerende Niederlage, die den Bann brach. Und diese Niederlage, das betone ich, erlitt Deutschland in einem Kolonialkrieg.

Den Deutschland mit äußerster Brutalität auch auf dem Gebiet der damals sowjetischen Ukraine führte.

Genau. Die Deutschen vergessen gerne, worin Hitlers Hauptziel bestand – nämlich die Kontrolle über die ukrainische Lebensmittelversorgung zu erringen. Hitler machte damals einen ähnlichen Fehler wie Putin heute: Aufgrund ideologischer Vorannahmen kam er zu dem Fehlschluss, dass der gegnerische Staat, in diesem Fall die Sowjetunion, schnell zusammenbrechen würde. Nun hat sich Deutschland seiner verbrecherischen Vergangenheit in einem bemerkenswerten Ausmaß gestellt – und tut das heute noch. Russland hingegen hat sich niemals ausführlich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinandergesetzt. Deshalb verhält sich Putin bis heute als brutaler Kolonialist: Er betrachtet die Ukraine als Objekt seiner kolonialen Gewaltphantasien. Damit muss Schluss sein.

Letztlich muss Russland also ein postkolonialer Staat werden, der sich den Schattenseiten seiner eigenen Geschichte stellt?

Was der Amateurhistoriker Putin übersehen hat, ist die Tatsache, dass die Geschichte aufseiten der Ukrainer steht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlitten die USA eine Niederlage in Vietnam, die Franzosen wurden in Algerien geschlagen: Mächtige Staaten wurden von kleinen besiegt. So wird es nun auch Russland in der Ukraine aller Wahrscheinlichkeit nach ergehen. Es kann in Russland weder ein Rechtsstaat noch eine lebendige Zivilgesellschaft entstehen, solange alles der Wiederrichtung des Imperiums untergeordnet und dem verlorenen Kolonialreich nachgetrauert wird. Solange die öffentlichen Debatten, mit den Kremlmedien an der Spitze, nur davon handeln, wie verachtenswert der Westen und die Ukraine seien, wird kein Wandel möglich sein. Und erst recht keine Demokratisierung.

Wie der Westen sich im Ukraine-Krieg weiter verhält, hängt vor allem von den USA ab. Dort waren die Kongresswahlen für die Republikaner und insbesondere für Donald Trump enttäuschend.

Es war aber ohne jeden Zweifel auch ein schlechter Tag für Putin. Er hatte sich von einer republikanischen Mehrheit im Kongress selbstverständlich eine Reduzierung oder gar eine Einstellung der US-Militärhilfe für die Ukraine erhofft. Stattdessen wurde es ein guter Tag für die Demokratie. Es hat sich gezeigt, dass Menschen wie Donald Trump, die die Ergebnisse freier Wahlen leugnen, in den USA doch eher unbeliebt sind.

Nun hat Trump allerdings seine Kandidatur bei der nächsten Präsidentschaftswahl angekündigt. Trauen Sie ihm eine weitere Amtszeit im Weißen Haus zu?

Trumps Karriere dürfte beendet sein, er will es nur nicht wahrhaben. Die Midterms haben den Republikanern deutlich gezeigt, wie schwierig es im Moment für sie wäre, eine nationale Wahl zu gewinnen. Sie haben in vielen Bundesstaaten nur deshalb noch so gut abgeschnitten, weil sie das Wahlsystem in ihrem Sinne zuvor verzerrt haben.

In Florida hat der republikanische Gouverneur Ron DeSantis einen hohen Sieg eingefahren, Trump ätzt nun über den potenziellen Rivalen im Präsidentschaftswahlkampf. Hätte der als "Trump mit Hirn" titulierte DeSantis Chancen, das Weiße Haus im Jahr 2024 zu erobern?

Die Republikaner sehen, dass Trump eine nationale Wahl nicht gewinnen kann. Für jeden von ihnen würde es 2024 schwer werden, aber für Trump wäre es viel schwieriger als für einen anderen Kandidaten. Davon gehe ich nach den Ergebnissen der Zwischenwahlen aus.

Falls aber doch ein Republikaner Präsident werden sollte: Würden sich die USA dann wieder stärker von Europa abwenden?

Das wird sich zeigen. Es kommt darauf an, welcher Republikaner es 2024 wäre. Der Fairness halber muss ich aber betonen, dass nicht wenige Republikaner durchaus eine überaus vernünftige Position zu diesem Konflikt bezogen haben. So oder so: Hoffen wir, dass die Ukraine den Krieg bis dahin gewonnen hat.

Sie selbst engagieren sich stark für die Ukraine, sammeln Geld für ein Abwehrsystem, mit dem russische Drohnenangriffe zukünftig abgewiesen werden sollen. Wegen Ihrer Profession als Historiker werden Sie deswegen bisweilen kritisiert.

Historiker zu sein gibt mir nicht das Recht, bei einem Völkermord wegzusehen. Es wäre ein unverzeihliches moralisches Versagen von mir, nichts zu tun – nur weil meine eigentliche Aufgabe darin besteht, etwa über Deportationen, Todesgruben und Filtrationslager zu schreiben. Ich kann Menschen nicht verstehen, die glauben, dass ihr Beruf sie von offensichtlichen moralischen Verpflichtungen entbindet. Im Jahr 2020 habe ich auf der Grundlage meiner historischen Arbeiten vorausgesagt, dass Donald Trump einen Putschversuch unternehmen werde. Wie es dann am 6. Januar 2021 auch geschehen ist. Ich hatte Recht – und es war wichtig, dass ich diese Warnung ausgesprochen habe. Hätte ich schweigen sollen, weil ich Professor bin? Selbstverständlich nicht. 2014 konnte ich richtig voraussagen, dass Russland in die Ukraine einmarschieren werde. Hätte ich auch da dann schweigen sollen? Nein!

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Historikern eine besondere Verantwortung für die Gegenwart obliegt?

Das ist so. Die erste Hälfte dieses Jahres habe ich in einem Gefängnis unterrichtet. Sollte ich mich etwa nicht in dieser Form für die Zivilgesellschaft engagieren, weil es kein Vorlesungssaal gewesen ist? Sollen meine Kollegen, die sich für eine Gefängnisreform in den USA einsetzen, dies nicht tun, weil sie wissenschaftliche Experten auf diesem Gebiet sind? Das ist Unsinn. Insbesondere die Geschichte Deutschlands zeigt überaus deutlich, dass kritische Zeiten eine tiefgreifende Berufsethik erfordern. Diese wiederum als Entschuldigung dafür zu nehmen, bei einem Völkermord wegzuschauen oder sich einer passiven Konformität hinzugeben, ist meiner Ansicht nach falsch. Gerade Historiker, die Entstehung und Verlauf von Völkermord und Massengewalt erforschen, tragen eine besondere Verantwortung dafür zu sorgen, dass sich so etwas nicht wiederholen kann.

Professor Snyder, vielen Dank für das Gespräch.