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„Ich habe Angst, das alles nicht bewältigen zu können“

Lange sah es so aus, als würde Reem F. der Neuanfang in Deutschland gelingen. Ihr Mann, vor acht Jahren vor dem Krieg in Syrien geflohen, holte die heute 36-Jährige mit der gemeinsamen Tochter 2017 nach Berlin und eröffnete ein Café. Reem F. – die eigentlich anders heißt – lernte Deutsch, und ihre Familie fand eine Wohnung.

Doch dann kam Covid, und das Café musste schließen. Wegen der Pandemie entfiel zudem der Präsenzunterricht für die Tochter in der neuen Sprache. Und nun – da wegen der Inflationskrise alles teurer geworden ist – wird der Alltag wieder schwieriger. „Selbst Second-Hand-Klamotten sind teurer geworden“, erzählt Reem F., die bei der Beratungsstelle für arabische Frauen Al-Nadi in Berlin an einem Konferenztisch sitzt und resigniert wirkt.

Ständig vergleiche sie Angebote bei Discountern, um ein paar Cent beim Einkauf zu sparen. Wie sie Geld für ein Geschenk zum Geburtstag ihrer Tochter aufbringen soll, weiß sie nicht. Ihre Aufstiegsgeschichte ist zu einem abrupten Halt gekommen. „Alles ist durcheinander“, erzählt sie in gebrochenem Deutsch.

Reem F.: „Ich bin dauern so nervös“

Reem F.: „Ich bin dauern so nervös“

Quelle: Jörg Wimalasena

Erst die Flucht, dann die Pandemie, nun die Inflation. Für Reem F. kam eine Härte nach der nächsten. „Ich bin dauernd nervös“, erzählt die Frau mit dem braunen Kopftuch, der es sichtlich schwerfällt, über ihre Situation zu sprechen.

In der Inflationskrise schildern Migranten und Sozialarbeiter der WELT, mit welchen besonderen Problemen Zuwanderer gerade zu kämpfen haben. Lina Ganama, die bei der Al-Nadi-Beratungsstelle Frauen mit Migrationsgeschichte hilft, erzählt von ihren Alltagserlebnissen. „Unsere Klientinnen sind fassungslos gewesen, als im Frühjahr auf einmal das Sonnenblumenöl doppelt so teuer wurde“, sagt sie. Viele hätten gar nicht den Zusammenhang mit dem Krieg verstanden. Es habe Gerüchte gegeben, dass nun allen der Strom abgestellt werde, schildert Ganama.

Beraterin Lina Ganama: „Nicht alle wissen, was überhaupt das Wohngeld ist“

Beraterin Lina Ganama: „Nicht alle wissen, was überhaupt das Wohngeld ist“

Quelle: Jörg Wimalasena

Bei Al-Nadi habe man deshalb viel Aufklärungsarbeit leisten müssen – zum Beispiel, dass man jetzt Strom sowie Gas sparen und Geld für Nachzahlungen zurücklegen müsse. Ein Informationsdefizit aufgrund der Sprachbarriere sei typisch für viele Migranten. Zudem sei manchen – wenn sie nicht etwa von Jobcenter-Mitarbeitern darauf aufmerksam gemacht würden – gar nicht bewusst, welche Leistungen ihnen zustehen. „Nicht alle wissen, was überhaupt das Wohngeld ist“, erzählt Ganama, die selbst Ende der 80er-Jahre aus Syrien nach Deutschland kam.

Von Sprachproblemen in der Inflationskrise erzählt auch Lena Wiese, die im Duisburger Bezirk Hochfeld Sozialberatungen anbietet, die vor allem von Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien genutzt werden. Im Ladenlokal des Vereins „Solidarische Gesellschaft der Vielen“, das wie ein Wohnzimmer gestaltet ist, sitzt sie mit Familien aus der Umgebung jede Woche zusammen und hilft ihnen bei der Kommunikation mit Behörden und Unternehmen. Vielen habe man überteuerte „Abzocker-Verträge“ angedreht, weil Zuwanderer oft nicht die Vertragsdetails verstünden.

Sozialberaterin Lena Wiese: „Die wissen nicht, wie sie das zahlen sollen“

Sozialberaterin Lena Wiese: „Die wissen nicht, wie sie das zahlen sollen“

Quelle: Jörg Wimalasena

Schon jetzt tauchten viele Menschen mit hohen Stromrechnungen auf, erzählt Wiese. „Die wissen nicht, wie sie das zahlen sollen.“ Service-Center, in denen man vor Ort beraten werde, gebe es immer weniger. „Und Ratenzahlungen per Telefon zu vereinbaren, ist vielen wegen der Sprachbarriere nicht möglich“, so Wiese. Sie und ihre Kollegen versuchen deshalb häufig, per Telefon mit Energieunternehmen und Behörden zu kommunizieren. Das gelingt mal besser und mal schlechter.

Ein großes Problem, sagt Wiese, sei die grassierende Armut. „Die Ärmsten der Armen trifft es am stärksten. Die Leute haben kein Geld.“ Schon jetzt werde einigen ihrer Klienten der Strom abgedreht. Für Bulgaren und Rumänen sei es zudem schwierig, Wohnungen zu finden. Die Entlastungspakete der Bundesregierung seien nicht zielgenau genug auf Arme ausgerichtet. Die soziale Not sei groß. Die Inflation treffe Menschen, die einen hohen Anteil ihres Einkommens für Güter des täglichen Lebens ausgeben müssen, zudem besonders schwer.

Zu viert auf 54 Quadratmetern

Tatsächlich sind die Preissteigerungen bei Lebensmitteln (im August 16,6 Prozent) mehr als doppelt so hoch wie die allgemeine Inflationsrate (7,9 Prozent). Die Härten versuchen Migranten durch Solidarität in der Gemeinschaft auszugleichen. Fragt man Klientinnen von Wiese in Duisburg, wie sie zurechtkommen, verweisen viele auf Verwandte, die sie unterstützten.

Zugleich scheinen augenscheinlich Bedürftige einen gewissen Stolz zu haben. Ein Mann mit Bart, dem eine Kollegin Wieses gerade Lebensmitteltüten für seine Familie organisiert hat, sagt er, habe „keine Probleme“.

Doch vor allem Migranten sind von Armut betroffen – und das war auch schon vor der aktuellen Krise so. 2019 war das Armutsrisiko von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit laut Statistischem Bundesamt mehr als dreimal so hoch wie bei Deutschen ohne Migrationshintergrund. Mehr als jeder Dritte war armutsgefährdet. Senioren mit Migrationshintergrund sind demnach auch weit häufiger von Altersarmut betroffen als Deutsche ohne Migrationshintergrund.

In Duisburg bereitet man sich deshalb schon jetzt auf einen harten Winter vor. Lena Wiese will in ihren Vereinsräumen künftig auch eine Suppenküche für gemeinsames Kochen anbieten und Kleidung verteilen.

Auch Reem F. in Berlin macht Abstriche. Die Suche nach einer neuen Wohnung hat sie aufgegeben. Zu viert lebt die Familie weiterhin auf 54 Quadratmetern in Berlin-Friedenau. Auch sie hat sich Geld von Verwandten leihen müssen, das sie nun in Raten zurückzahlen will. Trotzdem will sie ihre vorübergehende Abhängigkeit vom Jobcenter so schnell wie möglich wieder beenden.

Jetzt, da die zweite während der Corona-Pandemie geborene Tochter einen Kita-Platz hat, will Reem F. im kommenden Monat bei einem arabischen Sozialverein einen Minijob beginnen, ihr Mann hat einen Arbeitsplatz als Grafiker in einer Druckerei gefunden. Es sind unsichere Jobs angesichts der drohenden Rezession. Trotzdem hofft sie, dass es nun wieder aufwärts geht. Die Sorgen bleiben trotzdem: „Ich habe Angst, das alles nicht bewältigen zu können.“

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