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IGH-Gutachten über Besatzung: Muss Israel das Westjordanland zurückgeben?

Ende Dezember bat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Internationalen Gerichtshof (IGH) um eine Stellungnahme zur Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung im Westjordanland. Dieses Gutachten könnte zu einer scharfen Verurteilung Israels führen und für das Land "einige negative Auswirkungen haben", sagt der israelische Jurist Ori Beeri im Interview mit ntv.de. Nicht nur Israels Ansehen wäre in der internationalen Gemeinschaft beschädigt, das Gutachten wäre auch ein Sieg für die BDS-Bewegung.

ntv.de: Im Sechstagekrieg von 1967 hat Israel das Westjordanland von Jordanien erobert und hält es seither besetzt. Ist diese Besatzung laut Völkerrecht illegal?

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Ori Beeri ist Jurist und Koordinator des Programms Recht und nationale Sicherheit beim Institute for National Security Studies in Tel Aviv.

(Foto: privat)

Ori Beeri: Im Völkerrecht wird es als tatsächliche Situation bezeichnet, in der ein Staat das Territorium eines anderen Staates okkupiert und dort eine tatsächliche Kontrolle ausübt. So hat in unserem Fall Israel eine Reihe von Verpflichtungen, etwa die Menschenrechte einzuhalten, die es respektieren muss. Doch es gibt keinen eindeutigen Hinweis auf die Legalität oder Illegalität der Besetzung selbst, da sein rechtlicher Status - vollständige Annexion oder sogar gemeinschaftliche Herrschaft - laut Israel noch immer auf der Schwebe ist.

Ist ein Staat nicht verpflichtet, ein erobertes Territorium zurückzugeben?

Laut Besatzungsrecht gibt es keine eindeutige Bestimmung seiner Dauer. Es können ein Jahr oder auch hundert Jahre sein. Aber seit dem Zweiten Weltkrieg - und auch vorher schon - dürfen sich Staaten kein Territorium mit Gewalt aneignen. Das bedeutet, selbst wenn sie es im Krieg erobert haben, dürfen sie dort keine Souveränität ausüben.

Was bedeutet das für Israel?

In diesem Fall besteht die Notwendigkeit, über die Souveränität des Territoriums zu verhandeln und in der Zukunft darüber zu entscheiden. Die israelische Regierung behauptet, dass es keine Besatzung im Westjordanland ist, weil es sich dort um ein umstrittenes Territorium handele. Offiziell wird das damit erklärt, dass dieses Gebiet zuvor rechtlich nicht zu Jordanien gehört hatte, da das Königreich es 1950 - ein Jahr nach dem Ende des israelischen Unabhängigkeitskrieges - annektierte und dies nur von Großbritannien, Pakistan, dem Irak und den USA anerkannt wurde. Da Jordanien 1988 auch seine Ansprüche auf das Westjordanland aufgab, ist laut Israel die Souveränität des Territoriums in der Schwebe und müsste in künftigen Verhandlungen mit den Palästinensern entschieden werden.

Welche Staaten waren der entscheidende Faktor, das Gericht in Den Haag anzurufen?

Schon seit etwa zwanzig Jahren bemühen sich die Palästinenser, den Nahostkonflikt zu internationalisieren, insbesondere in rechtlicher Hinsicht. Zusammen mit einigen arabischen Staaten waren sie der entscheidende Faktor. Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass sie den IGH um Rat oder Meinung bitten. Wegen der israelischen Sperranlage im Westjordanland gab es aus Den Haag 2004 schon einmal eine Stellungnahme.

Doch es gibt noch weitere Bestrebungen, den jüdischen Staat auf die Anklagebank zu bringen. Etwa durch Ermittlungen einer internationalen Untersuchungskommission, wie dem UN-Menschenrechtsrat oder durch den Internationalen Strafgerichtshof, wo seit 2021 eine Untersuchung gegen Israel läuft, aber auch gegen die Palästinenser, in den Jahren nach 2014 womöglich Verstöße gegen die Menschenrechte begangen zu haben.

Verschiedene Staaten und Organisationen bezeichnen Israel als Apartheidstaat. Könnte dieser Vorwurf die Entscheidung des IGH beeinflussen?

Die Bitte um ein Gutachten erwähnte den diffamierenden Apartheidvorwurf in der Resolution der Generalversammlung nicht ausdrücklich. Es verwies lediglich auf diskriminierende Gesetze und Maßnahmen. Aber dies könnte dem IGH eine Tür öffnen, um die palästinensische Anklage zu erwähnen und vielleicht auch darüber zu entscheiden.

Welche Auswirkungen könnte das IGH-Gutachten für Israel haben?

Sollte ihre Bewertung den jüdischen Staat aufs Äußerste kritisieren, dann könnte es einige negative Auswirkungen haben. Nicht nur Israels Ansehen wäre in der internationalen Gemeinschaft beschädigt, das Gutachten wäre auch ein Sieg für die BDS-Bewegung. Diese antisemitische Organisation würde es als einen großen Erfolg verbuchen und im Kampf gegen Israel weiteren Auftrieb erhalten. Darüber hinaus könnte dieses Urteil auch die laufenden Untersuchungen des IStGH beeinflussen.

Könnten Sanktionen über Israel verhängt werden, droht gar ein Wirtschaftsboykott oder der Ausschluss aus der internationalen Gemeinschaft?

Das glaube ich nicht. Im Sicherheitsrat sitzen auch die USA, die über ein starkes Vetorecht verfügen. Seit der russischen Invasion in der Ukraine haben viele Unternehmen ihren Betrieb in Russland eingestellt. Das passierte hauptsächlich aus moralischen Gründen. Ich sage nicht, dass dies Israel treffen könnte, aber es besteht ein Risiko, dass das Gutachten die Entscheidungen einiger Unternehmen beeinflusst.

Welche Argumente hat Israel? Wie sieht seine Verteidigung aus?

Die Frage ist zunächst, ob Israel an dem Verfahren teilnimmt oder nicht. Über viele Jahre haben israelischen Regierungen das Völkerrecht nicht abgelehnt. Ihre Haltung war stets, dass der Prozess des israelisch-palästinensischen Konflikts politisch ist, der nur durch Verhandlungen und nicht durch ein Gericht gelöst werden sollte. Das Gutachten ist der Regierung natürlich nicht egal, doch normalerweise geben sie bei solchen Entscheidungen eine schriftliche Stellungnahme über Staaten ab, mit denen sie enge Beziehungen pflegen. Da vor dem IGH aber auch andere Nationen ihre Meinung darüber abgeben können, gehe ich davon aus, dass auch Jerusalem dieses Recht nutzen wird. Der neuen rechtsnationalen Regierung wird es aber schwerer fallen, befreundete Staaten zur Unterstützung Israels zu bewegen.

Könnte dieses Gutachten Israel zu Friedensgesprächen mit den Palästinensern zwingen und eine Zweistaatenlösung einfordern?

Der Gerichtsbeschluss von 2004 besagte, dass die israelischen Sperranlagen und die meisten Siedlungen illegal sind und das palästinensische Selbstbestimmungsrecht sowie internationales Recht verletzen. Trotzdem hat es Israel nicht zu Friedensgesprächen mit den Palästinensern gezwungen. Für Jerusalem war es am wichtigsten, wie die internationale Gemeinschaft diese Entscheidung unterstützt und annimmt. In der Stellungnahme von 2004 wiesen zahlreiche Staaten das Gutachten sogar zurück. Die neue rechtsnationale Regierung könnte allerdings sowohl die Souveränität der Gerichtsentscheidung als auch die Billigung durch die internationale Gemeinschaft negativ beeinflussen.

Inwiefern?

Israel könnte die ohnehin schon angespannte Lage durch unkluge politische Entscheidungen noch verschlimmern. Wie zum Beispiel durch Annexion von Teilen des Westjordanlands oder den Ausbau von Siedlungen. Am wichtigsten ist es, die Unabhängigkeit der israelischen Justiz zu bewahren und diese nicht zu beschneiden. Das ist der Unterschied zu 2004. Denn das oberste Gericht Israels ist der Garant für den Erhalt seiner Demokratie und damit auch für das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft. Es würde ein dunkles Licht auf den jüdischen Staat werfen, wenn die Unabhängigkeit der Justiz infrage stünde.

Wieso sind die Vereinten Nationen so fokussiert auf Israel? Wieso reagiert der IStGH nicht auf massive Menschenrechtsverletzungen in China, Myanmar, Ägypten, Iran, Nordkorea oder anderswo? Spielt da eventuell auch Antisemitismus eine Rolle?

Das schließe ich nicht aus. Aber die internationale Gemeinschaft erwartet von Israel mehr als von Diktaturen wie China oder dem Iran. Sie sieht den jüdischen Staat als Teil der westlichen Welt und möchte, dass er sich auch weiterhin wie ein demokratischer Staat verhält. Israel hat nicht die Macht und den Einfluss wie etwa Russland. Trotzdem ist es interessant, dass auch zahlreiche Staaten gegen die Resolution der UN-Generalversammlung gestimmt haben.

Kann man der UN-Doppelmoral und die Dämonisierung Israels vorwerfen, um den jüdischen Staat zu delegitimieren?

Ganz so drastisch sehe ich das nicht. Doch der UN-Menschenrechtsrat hat seit 2006 allein gegen Israel mehr Resolutionen verabschiedet als gegen alle Staaten der Welt zusammen. Im Vergleich zum jüdischen Staat wurde der russische Angriffskrieg auf die Ukraine von der UN-Generalversammlung bis jetzt nur zweimal verurteilt. Das sagt schon vieles aus.

Mit Ori Beeri sprach Tal Leder