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Inflation und Armut in Großbritannien: Frau Isaacs Kampf gegen die Armut

Christine Isaacs, 69, in ihrer Nachbarschaft im Norden von Leeds

Christine Isaacs, 69, in ihrer Nachbarschaft im Norden von Leeds

Foto: Danni Maibaum / DER SPIEGEL
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Sie ist schon früher da. Zehn Minuten vor der Verabredung sitzt Christine Isaacs ruhig bei Costa Coffee in ihrer Nachbarschaft und wartet. Ihr Platz ist ganz hinten, hinter zwei Ecken, so als würde sie sich in einem Schneckenhaus verstecken. Dabei ist das Gegenteil geplant.

Dem Treffen gingen viele Gespräche voraus, immer wieder am Telefon, per Textnachricht. Im Sommer hat sie dem SPIEGEL schon einmal aus ihrem Leben erzählt. Isaacs ist ein herzlicher Mensch, ihr Blick ist warm, ihr fast gemütliches Englisch vom Leben im britischen Yorkshire geprägt.

Sie will erzählen, wie die Armut ihr Leben geprägt hat. Was es diesen Winter konkret heißt, arm zu sein. Und über eine Idee, wie die Ungleichheit bekämpft werden könnte – auch andernorts.

Isaacs in der Einkaufspassage in ihrem Viertel. In der inzwischen hübsch sanierten Innenstadt war sie lange nicht mehr.

Foto: Danni Maibaum / DER SPIEGEL

In den vergangenen Jahren hat Isaacs oft über ihre Erfahrungen gesprochen, auf Bühnen, aber auch in Videos und in Diskussionsrunden. In ihrer Heimatstadt Leeds engagiert sie sich für die Poverty Truth Commission, eine Initiative, die dafür sorgen will, dass Armut nicht länger nur ein Problem der Armen ist.

Christine Isaacs ist 69 Jahre alt, hat drei Kinder, war fast immer alleinerziehend. Kein stabiles Einkommen. LS17 Lingfield Estate im Norden der Stadt, schwierige Gegend. Heute drei Enkel. 654 Pfund Rente im Monat, umgerechnet 760 Euro.

Jahrelang hatte sie Angst, ihre Kinder nicht versorgen zu können, das Sorgerecht zu verlieren. Zugesetzt hat Isaacs neben gesundheitlichen Problemen vor allem die Erkenntnis, es nie aus diesem Leben rauszuschaffen.

»Ich kann heute ja noch nicht einmal sagen, ob ich das zu wenige Geld, das ich habe, sinnvoll nutze.«

Die größte Veränderung der vergangenen Monate sei nicht gewesen, dass wieder das Geld fehlt, sagt Christine Isaacs. Sondern wie einsam die Unsicherheit sie mache. »Ich kann heute ja noch nicht einmal sagen, ob ich das zu wenige Geld, das ich habe, sinnvoll nutze. Gas, Essen, Strom – alles wird irgendwie teurer, aber man weiß nicht, wann und wie. Ich verliere den Überblick, und weil das so ist, verstecke ich mich meist, genau wie die Nachbarn.«

Nur wer vorab zahlt, bekommt Strom

Seit September überweist ihr die Regierung Geld für die Stromrechnung, alle vier Wochen umgerechnet 76 Euro. Es ist mehr, als Isaacs bislang bezahlt hat, weniger als sie jetzt zahlt. Viel verbraucht Isaacs nicht, das Stromsparen musste ihr kein Wladimir Putin beibringen. Der Zuschuss deckt jetzt immerhin den Grundbedarf.

Weil ihr Stromzähler wie bei Millionen anderer Briten schon vor Jahren in einem Akt des vorsorgenden Sozialstaats mit einer Prepaid-Karte ausgestattet wurde, die sie selbst aufladen muss, kann Isaacs heute centgenau nachverfolgen, wie lange ihr Guthaben noch zum Duschen und Licht anmachen reicht. Nur wer vorab zahlt, bekommt Strom.

Sanierte Innenstadt von Leeds

Foto: Daniel Harvey Gonzalez / In Pictures via Getty Images

Was die Probleme in ihrer Wohnung betreffe, komme sie irgendwie schon immer klar, sagt sie. Essen, Energie – »an sich selbst kann man immer noch sparen, auch wenn es traurig macht«, sagt Isaacs. Wirklich schlimm sei jedoch, dass sie ihre Enkel wegen der Preisanstiege kaum noch besuchen könne, weil ihr das Geld für die Fahrten fehlt. »Das raubt mir die Würde.« Einer von ihnen leide an Autismus, sagt sie. Wenn sie ihn länger als eine Woche nicht sehe, erkenne er sie kaum wieder. Jede Begegnung sei dann reiner Stress. Das letzte Mal hat sie ihn vor einem Monat getroffen.

Manche Bewohner beschreiben Leeds als Ansammlung von Dörfern und Problemen. Eine deindustrialisierte Stadt im Norden Englands, ohne richtiges Zentrum und Ziel für die Zukunft. In der inzwischen hübsch sanierten Innenstadt war Isaacs lange nicht mehr. »Die Läden dort haben keine Preisschilder im Fenster. Ich brauch da nicht reingehen«, sagt sie, »es ist für Studierende und Reiche.« Auch deshalb das Treffen bei einer Kaffeekette am Ortsrand. Vieles, sagt Isaacs, sei schon vor der Inflation nicht anders gewesen. »Da hat es nur keinen interessiert.«

Der Prepaid-Stromzähler im Flur ist ein Beispiel dafür, wie der Staat heute mit Armut umgeht. Hinzu kamen immer neue Konzepte bei der Arbeits- und Familienberatung, Fallmanager. »Immer weniger Zeit, immer längere Briefe von den Behörden«, sagt Christine Isaacs. Ihr Leben ist nicht zuletzt ein Spiegel der neoliberalen Entwicklung der vergangenen 40 Jahre.

Was in Großbritannien mit »There's no such thing as society« und viel Druck von oben begann, setzt sich heute mit Diskussionen über Hartz-IV-Sanktionen auch in Deutschland fort. Fördern und Fordern. Es ging und geht im Umgang mit Armut und Ungleichheit oft um Eigenverantwortung und Effizienz, nicht um Empathie.

Christine Isaacs hat lange offen darüber gesprochen. Seit fast zehn Jahren offenbart sie ihr Leben anderen gegenüber, um zu zeigen, was es wirklich bedeutet, arm zu sein. Reden kann befreien. Doch Isaacs sagt, sie empfinde es zunehmend eher als Belastung.

Beim Erzählen hält sie sich an der Tasse von Costa Coffee fest, so als könne sie ein Anker sein. Und als sie das Café verlässt, geht sie vorsichtig über die Straße. Es wirkt so, als ließen die vergangenen Wochen in ihr Zweifel aufkommen, ob sich wirklich etwas zum Guten verändern lässt. Und ob die Poverty Truth Commission überhaupt etwas verändern kann.

»Blaming ›the suits‹ does not make things better«, heißt es im Manifest der Poverty Truth Commission. Doch verbessert es das Leben?

Foto: DER SPIEGEL

Für die Kommission treffen sich Armutsbetroffene, Geschäftsleute, Politikerinnen und Verwaltungsangestellte monatelang mehrmals. Erst geht es um die Lebensgeschichten Betroffener, dann um praktische Lösungen.

Die Idee dahinter ist, prominente Menschen aus der Stadt nicht nur mit traurigen Geschichten, sondern konkreten Problemen zu konfrontieren. Unterstützt werden die Teilnehmer von Kirchengemeinden und Stiftungen, Sozialarbeiter begleiten die Diskussionen. Die erste Gruppe in Leeds traf sich 2014, heute gibt es Ableger im ganzen Land.

Der Bedarf scheint da. Gleichzeitig wirkt die Idee, arme Menschen mit Sachbearbeitern und Politikerinnen in einen Raum zu bringen, zunächst pathetisch. Jeder Wahlkampf ist voll von Reden über Respekt.

Ein »Humanifesto« für die Stadt

Doch Issacs erzählt, wie sie und die anderen Betroffenen in der Gruppe sich nach dem anfänglichen Geplauder davon frei strampelten. Wie sie zu den Gastgebern wurden. Und die Aufmerksamkeit nutzten, um etwas zu verändern. Es waren Forderungen, bei denen der Stadtrat im direkten Gespräch wenig entgegnen konnte. Einmal fragte ein Vater, warum er jedes Jahr neue Schuluniformen für seine Töchter kaufen müsse. Könne die Stadt sie nicht auch verleihen und weitergeben? Plötzlich ging es.

Ein anderes Mal brachte eine Frau einfach ihre Behördenpost mit. Ein Schreiben, 14 Seiten. Sie knallte es dem zuständigen Vertreter der Stadt hin und fragte: Können Sie es mir erklären? Er konnte es nicht. Inzwischen regelt eine Vorschrift, wie lang die Briefe der Beamten an ihre Bürgerinnen und Bürger sein dürfen.

Die Geschichte von Leeds lässt sich in der Innenstadt noch immer erkennen

Foto: Daniel Harvey Gonzalez / In Pictures via Getty Images

Es sind einfache, umsetzbare Anliegen. Am Ende stellte Christine Isaacs die gesammelten Ergebnisse mit einem Spieler der örtlichen Rugbymannschaft im Stadtmuseum vor. Sie nannten es »Humanifesto«, ein Manifest für ein menschliches Miteinander. »Blaming ›the suits‹ does not make things better«, heißt es darin: »Den Anzugträgern die Schuld zu geben, macht die Dinge nicht besser.«

Hinterher trotzten sie den Verantwortlichen das Versprechen ab, gleich weiterzumachen.

So nutzt die Poverty Truth Commission die Methoden des um Effizienz bemühten Sozialstaats, um ihn jetzt selbst zu verändern: stetig zuhören und Verbesserungsvorschläge machen. Lebenslanges Lernen für politisch Verantwortliche, wenn man so will. Wer könnte da schon Nein sagen?

Christine Isaacs hat schon zweimal bei der Kommission mitgemacht, denn: Wie oft bekomme jemand wie sie das Gehör des Bürgermeisters? Diese Erfahrung habe für sie Welten überbrückt. Und sie ist sich sicher, dass ihr Engagement in Leeds bereits etwas bewirkt hat. Und doch, sagt sie, habe nach all den Treffen auch eine bittere Erkenntnis gewartet: Soviel sie auch redete – am Ende ging es jedes Mal zurück in ihr Leben im Schneckenhaus.

Das lässt sie nicht los. Um die Unwuchten der britischen Gesellschaft zu verändern, reicht auch die Poverty Truth Commission nicht.

Derzeit steht Großbritannien vor der längsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen ist der Lebensstandard auf der Insel so stark zurückgegangen wie zuletzt.  Doch während die Armut so rasant wächst, geht es vor allem um noch härtere Einsparungen, anstatt um Hilfen. Auch in Leeds. Christine Isaacs und ihre Mitstreiterinnen haben darauf bereits eine Antwort: Sie planen derzeit die nächste Kommission.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft