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Interview mit der Arbeitsagentur-Chefin - Wie ungerecht ist das Bürgergeld, Frau Nahles?

In einem Monat soll das umstrittene Bürgergeld (ersetzt Hartz IV) starten!

Verantwortlich dafür, dass alles reibungslos klappt, ist die Bundesagentur für Arbeit (BA) – und ihre neue Chefin: Andrea Nahles (52).

Sie war Juso-Chefin, SPD-Linksaußen, hat als Arbeitsministerin den Mindestlohn eingeführt – und fiel 2019 in der Fraktion in Ungnade, stieg aus.

Seit dem 1. August sitzt die Eiflerin in Nürnberg auf dem Chefsessel der Bundesagentur für Arbeit, hat gleich die Deutschland- und Europa-Fahne bügeln lassen („waren total zerknittert“) , rote Stühle bringen lassen („War so trist hier.“) und hat ein Kreuz mit Palmzweig („Wie man das in der katholischen Eifel macht.“) aufgehängt.

Muss das Bürgergeld einführen: Andrea Nahles
Nahles ist verantwortlich für die Einführung des BürgergeldsFoto: Daniel Löb

Mit den BILD-Reportern Jan Schäfer und Peter Tiede sprach Nahles über ihr erstes Mammut-Projekt: die Einführung des Bürgergeldes.

BILD: Frau Nahles, zum 1. Januar löst das von der SPD und von Ihnen als Politikerin erfundene Bürgergeld das alte, von Ihnen einst bekämpfte Hartz IV ab. Sind Sie stolz?

Andrea Nahles: „Nach 17 Jahren Erfahrungen mit 'Hartz' war es überfällig zu gucken, was gut funktioniert hat und was weniger. Dass wir jetzt besseres Handwerkszeug bekommen, um Menschen teils nach vielen Jahren aus der Hilfsbedürftigkeit rauszubekommen, freut mich – ja.“

Statt „Fördern und Fordern“ gibt es jetzt mehr Fördern und weniger Fordern. Ist das nicht ungerecht?

Nahles: „Wir können jetzt tatsächlich einen stärkeren Akzent auf Qualifizierung legen und nicht mehr auf Vermittlung in jede Tätigkeit – den sogenannten Vermittlungsvorrang. Das ist auch notwendig, denn wir brauchen dringend Fachkräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Wir haben jetzt die Möglichkeit, auch Grundkompetenzen breit zu schulen, und mit Coaching zu unterstützen.“

Wollen Sie die Arbeitslosen etwa an der Hand zur Arbeit bringen?

Nahles: „Ja, das bedeutet wirklich: Wir nehmen die Leute zur Not an die Hand; morgens zur Arbeit, bei der Arbeit. Viele haben nach Jahren der Arbeitslosigkeit keinen Rhythmus mehr. Besonders Qualifizierung ist wichtig: Wir haben auf eine einfache Helferstelle sechs Bewerber, aber eben gleichzeitig ganz viele freie Fachkräfte-Stellen, die wir nicht besetzen können. Der entscheidende Punkt muss jetzt sein, auch die ungelernten Langzeitarbeitslosen zu qualifizieren.“

Von den 5,3 Millionen Hartz-Empfängern sind 3,8 Millionen erwerbsfähige Erwachsene. Werden die künftig dann alle einen Job haben?

Nahles: „Bei allen wird es nicht möglich sein. Nicht wenige sind gesundheitlich eingeschränkt. Einige sind auch damit zufrieden, ab und an mal Helfer-Jobs zu übernehmen. Die klare Mehrheit will arbeiten. Besonders schwer in Arbeit zu kommen, haben es zum Beispiel Frauen mit Migrationshintergrund, die keine oder eine schlechte Schulausbildung haben.“

Warum?

Nahles: „Bei vielen fehlt es an Grundkompetenzen: Sprache, Schreiben, Rechnen. Wir haben jetzt mit dem Bürgergeld bessere Möglichkeiten, da wirklich anzusetzen. Überall, wo ich hinkomme, steht „Bäckereifachverkäuferin gesucht“ – wenn wir nun leichter die Grundkompetenzen vermitteln können, dann ist für mehr Leute als man denkt Arbeit da. Wenn wir diese Menschen nicht jetzt in dieser guten Arbeitsmarktsituation qualifizieren und vermitteln können, wann denn dann?“

Vierköpfige Familien kommen mit Bürgergeld und den weiteren Leistungen zum Teil auf mehr als 3000 Euro im Monat. Damit lohnt sich arbeiten immer weniger. Wird der Arbeiter der Dumme?

Nahles: „Nein. Es lohnt sich immer zu arbeiten: Man bekommt in den allermeisten Fällen mehr Geld und bleibt in der Regel nicht ein Leben lang im Mindestlohn, sondern kann sich weiter entwickeln. Man zahlt in die Rente ein. Und ganz wichtig: Man ist seinen Kindern ein Vorbild, hat einen anderen gesellschaftlichen Status für sich und seine Familie. Und wer Bürgergeld bekommt, muss auch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und es werden ja Arbeitskräfte gesucht.“

Sind also die Löhne zu niedrig, wie viele Sozialverbände behaupten?

Nahles: „Die Löhne werden zum Glück in Deutschland von den Sozialpartnern verhandelt. Ausnahme ist der Mindestlohn. Da werde ich mich als Chefin der Bundesagentur für Arbeit nicht einmischen.“

Im Januar muss das neue Bürgergeld ausgezahlt werden. Schaffen Sie das?

Nahles: „Ja. Wir haben gesagt, wenn wir bis zum 30. November von der Politik die Entscheidung über das Bürgergeld haben, können wir zum 1. Januar die neuen höheren Regelsätze auszahlen. Wir haben die Entscheidung, also schaffen wir das. Aber auch wir müssen ja unsere Hausaufgaben machen.“

Welche?

Nahles: „Wir werden in den kommenden Monaten tausende Mitarbeiter vorbereiten und wollen einen neuen Geist in die Beziehung zwischen Kunden und Mitarbeitern bringen. Dazu gehört eine neue Sprache: Die Briefe und Bescheide, die den Leuten ins Haus flattern, sind ja nicht jedem leicht verständlich. Da ist zu viel Juristen-Deutsch und zu wenig an klaren deutschen Hauptsätzen drin – da wollen wir verständlicher werden. Umgekehrt erwarte ich jetzt auch von den Kunden, dass sie sich auch auf uns zubewegen, die Kooperation mit uns wieder suchen. Das Bürgergeld muss von beiden Seiten als neuer Startschuss verstanden werden.“

Was müssen die bisherigen Hartz-IV-Empfänger tun, um das höhere Bürgergeld zu bekommen?

Nahles: „Grundsätzlich nichts. Es muss niemand, der schon Leistung bezieht, einen neuen Antrag stellen – das wird automatisch berechnet und überwiesen. Nur wenn ein Antrag zum Jahresende ausläuft, muss wie gewohnt die Weiterbewilligung beantragt werden.“

Aber brauchen nicht auch viele den Druck von Sanktionen, um den Hintern wieder hochzukriegen?

Nahles: „Wir sind immer für Mitwirkungspflichten gewesen, das ist ja auch nur fair gegenüber den Steuerzahlern, die die Leistungen erarbeiten. Aber Sanktionen stehen nicht im Mittelpunkt, sie motivieren nicht und helfen nicht Arbeit zu finden. Die überwiegende Anzahl der Leute verweigert sich nicht. Die wollen, haben aber oft Probleme sprachlicher Art oder kompetenzmäßig, haben gesundheitliche Einschränkungen oder sind alleinerziehend und die Kita-Öffnungszeiten passen nicht.“

▶︎ ANTRÄGE: Bezieher von Hartz IV müssen KEINE neuen Anträge stellen! Berechnung erfolgt automatisch, die Überweisung auch. ABER: Läuft die Bewilligung zum Jahresende aus, muss ein Weiterbewilligungsantrag gestellt werden.

▶︎ NEUE REGELSÄTZE: Alleinstehende: 502 €,
Paare je Partner: 451 €,
Junge Erwerbslose (18-25 Jahre) im Eltern-Haushalt: 402 €,
14-17 Jahre: 420 €,
6-13 Jahre: 348 €,
unter 6 Jahren: 318 €.

▶︎ SCHONVERMÖGEN: Antragsteller: 40 000 €,
weitere Person im Haushalt: 15 000 Euro (max. 1 Jahr).

▶︎ ZUVERDIENST (gilt ab 1. Juli): Wer max. 1000 € Euro zuverdient, kann 30 % (bisher 20 %) behalten. Bei Schüler-Ferienjobs wird nichts abgezogen.