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"Keine Ahnung, wer Kanzler ist": Deutsche IS-Kämpfer: Vom Kalifat in den kurdischen Knast

"Keine Ahnung, wer Kanzler ist" Deutsche IS-Kämpfer: Vom Kalifat in den kurdischen Knast

Zahlreiche ehemalige IS-Kämpfer aus Deutschland sitzen bis heute in kurdischen Gefängnissen in Syrien. Die Bundesrepublik kümmert sich nicht um sie. Besuch bei einem, der seit Jahren von der Außenwelt abgeschnitten in einer dunklen Zelle hockt.

Im Norden Syriens scheint die Sonne im Schnitt mehr als acht Stunden am Tag, doch in den langen und dunklen Gängen des Gweiran-Gefängnisses kommt davon nichts an. Das wenige Licht spenden Lampen an der Decke, die kahlen Wände sind so grau wie die Gitter- und Zellentüren. Die Gefangenen, die sich mit bis zu zwölf anderen Häftlingen eine Zelle teilen, sehen davon nichts. Führen die Wärter die Insassen aus ihren Zellen, sind ihre Augen verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt.

In dem Gweiran-Gefängnis sitzen Soldaten des Islamischen Staates ein, die die kurdischen Kämpfer der SDF, der Demokratischen Kräfte Syriens, nach dem Zusammenbruch der Terrortruppe in Syrien festgenommen haben. Es sind Tausende, sie kommen aus der ganzen Welt. Die trostlosen Gänge des Gweiran-Gefängnisses hat schon lange kein Journalist mehr betreten, deutsche Behördenvertreter erst recht nicht. Dabei sitzt hier auch ein Mann aus Frankfurt ein, der für Jahre Teil des IS gewesen ist. Seinen echten Namen dürfen wir nicht schreiben, wir nennen ihn Serdar. Wie seine Mithäftlinge wurde er von den Kurden verhaftet, im März 2019 sei das gewesen, so der Deutsche.

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Mit bis zu zwölf anderen Gefangenen müssen sich die Insassen des Gweiran-Gefängnisses eine Zelle teilen.

(Foto: RTL/ntv)

Zum Gespräch wird Serdar von den Soldaten in einen weißen und schmucklosen Raum geführt. Sein ausgeblichener Nike-Trainingsanzug ist so farblos wie das Gefängnis. Serdars Gesicht sieht man an, dass er vermutlich über Jahre kein Sonnenlicht gesehen hat. Seit seiner Festnahme habe er weder Kontakt zu seiner Familie in Deutschland gehabt noch zu seiner Frau, die er in seiner Zeit beim IS geheiratet hat. Ob sie oder die drei gemeinsamen Kinder noch leben, das wisse er nicht. Serdar ist völlig von der Außenwelt abgeschnitten, erzählt er. "Keine Ahnung, wer momentan Kanzler ist. Ich weiß auch nicht, ob die Fußball-WM 2022 stattgefunden hat oder sonst etwas. Ich bin seit vier Jahren ohne jegliche Nachrichten", berichtet Serdar.

IS-Kämpfer werden nicht zurückgeholt

Seine Geschichte bis zur Festnahme beschreibt er so: 2015 reiste er über Italien und die Türkei nach Syrien aus und schloss sich dort dem IS an. Seine erste Station war ein Gasthaus für ausländische Dschihadisten. Bei einem Luftangriff der Amerikaner wurde Serdar verletzt und musste anschließend auf Krücken umherlaufen. Gelebt hat er hauptsächlich in Rakka im Norden Syriens. "Ich habe nie gearbeitet oder etwas getan. Was kann ein Mann auf Krücken schon machen?", klagt er.

Serdar behauptet, er habe nie gekämpft, in den Unterlagen des IS wird er allerdings als Soldat geführt. Der Frankfurter sagt: "Ich habe dort nur gelebt. Ich war ein Einwohner. Ein Einwohner des Islamischen Staates."

Doch Serdar ist den deutschen Sicherheitsbehörden bestens bekannt. Nach ntv-Informationen wird gegen ihn wegen seiner Tätigkeiten im Kalifat ermittelt, sollte er nach Deutschland zurückkehren, klicken wohl noch am Flughafen die Handschellen. Laut Bundesinnenministerium stehen alle Deutschen, die über einen längeren Zeitraum in den Gebieten des IS gelebt haben, unter besonderer Beobachtung und "im besonderen Fokus der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden".

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Aylin sitzt nicht in einem Gefängnis, sondern mit ihren Kindern in einem Lager - ihre Situation ist kaum besser.

(Foto: RTL/ntv)

Auf Anfrage, ob man in Zukunft plane, die ehemaligen Kämpfer nach Deutschland zurückzuholen, um sie hier vor Gericht zu stellen, oder ob dies in Teilen schon geschehen ist, antwortet das Ministerium: "Die Bundesregierung hat keine Männer, die mutmaßlich für den IS gekämpft haben, aus Nordost-Syrien zurückgeholt." Begründet wird das wie folgt: "Für männliche Erwachsene gilt, dass vor Ort Strafverfolgungsansprüche gegen IS-Anhänger bestehen können."

Die Kurden wünschen sich zumindest finanzielle Hilfe

Fraglich ist, ob die Kurden ihre Strafverfolgungsansprüche wahrnehmen wollen. Dort hat man aktuell ganz andere Sorgen, seit Monaten greift die Türkei Ziele in Nordsyrien an. "Durch die Angriffe seitens der Türkei wird unsere Situation mit den IS-Häftlingen schwerer. Wir müssen einerseits unsere Familien und Kinder beschützen und dann uns noch um den IS kümmern", erzählt eine SDF-Kommandantin. Und weiter: "Es gibt Staaten, die nicht einmal daran interessiert sind, ihre Staatsbürger zurückzuholen, sie wollen nicht die Verantwortung tragen und zeigen sich nicht kooperativ." Wenn Staaten ihre IS-Häftlinge nicht direkt aufnehmen können, dann sollen sie den Kurden wenigstens finanziell unter die Arme greifen, so die Kommandantin. Es ist sei sehr schwierige Situation, die man nicht allein stemmen könne.

Anders als männliche Kämpfer hat Deutschland Frauen, die sich dem IS angeschlossen haben, zurück nach Deutschland geholt - sofern diese das wollten. Insgesamt gab es sieben solcher Rückholungen, in denen die Bundesregierung 27 Frauen, 81 Kinder und einen Heranwachsenden aus Nordost-Syrien nach Deutschland gebracht hat.

Weiter in Syrien ausharren muss Aylin. Auch ihren Namen haben wir geändert. Aylin wurde zwar in Deutschland geboren und wuchs in Hamburg auf, allerdings nahm sie nie die deutsche Staatsbürgerschaft an. Sie habe das nie für notwendig empfunden, als Türkin mit dauerhafter Aufenthaltsgenehmigung habe das nie einen Unterschied gemacht, erzählt sie uns. Es ist eine Entscheidung, die sie nun wohl bereut. "Ich möchte raus aus dieser Gefangenschaft", sagt Aylin.

"Kein Kommentar"

Auch sie folgte dem Traum vom Kalifat und reiste ins IS-Gebiet aus. Dort heiratete Aylin einen Deutsch-Kosovaren, die beiden haben drei gemeinsame Kinder. Ihr Mann kam 2017 ums Leben. Aylin und die Kinder befinden sich seit einem gescheiterten Fluchtversuch aus Syrien im Roj-Camp, welches, ebenfalls unter kurdischer Kontrolle, im Norden des Landes liegt. Hier reiht sich Zelt an Zelt, über die Straße laufen vollverschleierte Frauen mit kleinen Kindern an der Hand. Die größten Opfer der Situation sind die kleinsten Bewohner: die Kinder. Sie sind unverschuldet in dieser Situation, an eine normale Kindheit ist nicht zu denken. Lediglich ein Fußballplatz in der Mitte des Lagers bietet etwas Abwechslung im tristen Alltag.

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Der Fußballplatz im Roj-Camp im Norden Syriens

(Foto: RTL/ntv)

Das Camp ist die unfreiwillige Heimat für Frauen und Witwen von IS-Kämpfern sowie für deren Kinder. Sie sitzen zwar nicht in Gefängniszellen, allerdings umgibt das Gebiet ein hoher Zaun. Im Camp patrouillieren bewaffnete SDF-Kämpfer. "Ich möchte eine bessere Zukunft für meine Kinder. Sie sollen frei sein und die Welt sehen", klagt Aylin. Doch für die schlechten Zukunftschancen ihrer Kinder ist nur eine Person verantwortlich - sie selbst.

Im kurdischen Knast ohne Sonnenlicht fragen wir Serdar, ob er es bereut, sich dem IS angeschlossen zu haben. Er überlegt kurz, atmet dann laut aus. "Kein Kommentar", presst er angesäuert hervor. Er will den Eindruck erwecken, als lasse ihn die Situation kalt. Doch in seinem Gesicht sieht man, wie sehr in diese Frage nervt.

Die Bundesregierung vermutet, dass über 200 Personen aus Deutschland in Gefängnissen in Syrien, dem Irak oder der Türkei sitzen. Viele davon in einem kurdischen Knast. Es sind Menschen wie Serdar oder Aylin und ihre Kinder. Menschen, mit denen Deutschland die Kurden allein lässt.