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Kriegswirtschaft weit entfernt: "In der Rüstungsindustrie arbeiten vielleicht noch 65.000 Menschen"

Kriegswirtschaft weit entfernt "In Rüstungsindustrie arbeiten vielleicht noch 65.000 Menschen"

Angesichts des Krieges in der Ukraine muss sich die Rüstungsindustrie neu aufstellen. Keine leichte Aufgabe. Im Interview erklärt Andreas Glas von der Bundeswehr-Universität, wie schnell Deutschland seine Produktion hochfahren kann und wer die ganzen Panzer und Waffensysteme eigentlich bauen soll.

ntv.de: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wird immer mehr zum Gamechanger, insbesondere für Deutschland. Zahlreiche der 140 versprochenen Leopard-2-Panzer sollen aus deutscher Produktion kommen. Das ähnelt fast einem Konjunkturprogramm. Die Rüstungsindustrie darf sich auf Milliardengewinne freuen, oder?

Andreas Glas: Zuerst: Auch die Rüstungsindustrie hat sich keinen Krieg gewünscht. Jetzt herrscht aber Krieg und deswegen braucht die Bundeswehr auch die Mittel im Bündnis, um unsere Sicherheit gewährleisten zu können. Die Erwartungshaltung der Branche ist sicherlich groß. Die Industrie wird nachliefern müssen und dafür werden logischerweise Aufträge vergeben. Ich gehe davon aus, dass dieses Material aus industrieller Produktion ersetzt wird. Die Rüstungsindustrie ist allerdings kein homogener Körper. Einige einzelne Unternehmen werden besonders viele Aufträge bekommen und andere werden ihr Geschäft vergleichsweise normal weiterführen.

Und trotzdem sprechen einige gerade sogar von "Kriegswirtschaft".

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Andreas Glas ist Professor für allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Universität der Bundeswehr in München. Sein Schwerpunkt ist die Beschaffung und das Supply Management.

Der Begriff der Kriegswirtschaft bezeichnet eine Wirtschaftsordnung im Kriegszustand. Das trifft auf Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt keinesfalls zu. Wir befinden uns nicht in einem Verteidigungsfall, den müsste nämlich erst der Bundestag ausrufen. Eine Kriegswirtschaft ist eine klare Priorisierung der Streitkräfte. Davon sind wir noch meilenweit entfernt.

Wieso taucht der Begriff dann trotzdem in der aktuellen Debatte auf?

Für mich ist das eine sprachliche Radikalisierung. Worauf diejenigen, die ihn benutzen, hinweisen wollen: Die Rüstungsbeschaffung stellt uns vor große Herausforderungen – und das würde ich unterschreiben. Ein Grund dafür sind die komplizierten Verfahrens- und Vergabevorschriften, Regularien und Administrationsverfahren. Hier bedarf es einer grundlegenden Reform. Übrigens war das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz hierzu im Sommer 2022 schon ein erster Schritt. Wegen solcher Anpassungen wird deswegen aus Deutschland aber noch lange keine Kriegswirtschaft, wir bleiben in der bestehenden marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung.

Die deutsche Bundeswehr pfeift aus dem letzten Loch, es ist eine einzige Verwaltung des Mangels. Wieso ist Deutschland momentan denn nicht in der Lage, schnell genug Rüstungsgüter bereitzustellen? Die Rüstungsindustrie steht doch in den Startlöchern.

Die Bundeswehr und die Verteidigungsindustrie in Deutschland und Europa hängen eng zusammen. Das lässt sich nicht voneinander trennen. Man kann nicht sagen: Die Industrie steht bereit, die Bundeswehr ist schuld. Gleiches gilt andersrum: Wenn Systeme nicht funktionieren, liegt es nicht nur an der industriellen Qualität der Produkte, sondern zuweilen auch an Bedienung und Wartung durch die Bundeswehr. Eine bessere Ausstattung geht nur gemeinsam. Die vergangenen 30 Jahre Sparkurs haben nicht nur unsere militärischen Fähigkeiten schrumpfen lassen, sondern darunter haben auch die industriellen Kapazitäten gelitten. Wer meint, wir könnten jetzt das Rad in kürzester Zeit zurückdrehen und es läge ja nur an den Aufträgen, der irrt. Der Status Quo der Bundeswehr ist eng verbunden mit einer radikalen Verkürzung und Verknappung der industriellen Basis. Wenn wir das ändern wollen, geht das nur gemeinsam und auch tatsächlich nicht von heute auf morgen.

Wie schnell könnte Deutschland denn überhaupt seine Rüstungsproduktion hochfahren?

Das hängt stark davon ab, was hergestellt werden soll. Wir sprechen hier sehr pauschal von so unterschiedlichen Gütern wie Fahrzeuge, Munition, Schiffe, Panzer oder Flugzeuge. Das Sondervermögen der Bundesregierung ist auf mehrere Jahre ausgelegt. Ich gehe davon aus, dass die grundsätzliche Neuaufstellung der Bundeswehr mindestens drei bis vier Jahre dauert, bis sich merkliche Ergebnisse zeigen. Bei "einfacheren" Produkten wie etwa Munition könnten sich erste Ergebnisse deutlich schneller zeigen. Allerdings war der aktuelle Munitionsmangel mit Beginn der ungeheuren Verbräuche im Russland-Ukraine-Krieg schon erkennbar. Das war vor rund einem Jahr. Aktuell kommt der Ausbau der Kapazitäten zwar voran, hinkt aber immer noch hinterher. Die Produktion von Panzern, U-Booten oder Flugzeugen lässt sich noch weniger ad hoc wieder hochfahren. Sie wurden nämlich bisher in kleinen Stückzahlen in Manufakturen hergestellt. Wir sind hier weit entfernt von einer Produktion am Fließband. Einen Panzer lässt sich nicht in Tagen oder Wochen herstellen. Wir reden hier von einem deutlich längeren Zeitraum.

Was muss denn passieren, wenn Deutschland eine führende Rolle bei der militärischen Stärkung Europas übernehmen will?

Die materielle Kraft der Streitkräfte liegt in den Betrieben. Das bedeutet: Alles, was wir tun, um besseres oder mehr Material zu bekommen, ist letztlich Aufgabe der Rüstungsindustriepolitik. Momentan habe ich das Gefühl, dass eher andere Staaten die Diskussion antreiben. Ich plädiere für eine aktivere Rolle und auch dafür, Großvorhaben auf den Prüfstand zu stellen oder zu ergänzen. Bevor große Rüstungsprogramme sich in fünf, zehn oder 15 Jahren tatsächlich auswirken, müssen wir jetzt mutiger werden. Wir sollten auch Zwischenlösungen zulassen, um der Bundeswehr zügig marktverfügbare Produkte zur Verfügung zu stellen. Und hier haben deutsche Unternehmen durchaus Gewicht. Die Bundeswehr ist in Europa eine große Armee, sehr häufig auch ein Aushängeschild.

Welche Rolle spielt denn der bekannte deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall? Kann der Konzern die Produktion ganz allein anziehen?

Wir schauen oft auf die großen Marktakteure, übersehen aber, dass Deutschland noch einen sehr starken wehrtechnischen Mittelstand hat. Unsere Lieferketten sind sehr ausdifferenziert. Ein Schützenpanzer zum Beispiel hat in erster Linie einen Hauptlieferanten, wie die Projektgesellschaft von KMW und Rheinmetall für den Puma. Es gibt aber ein paar hundert weitere Unternehmen, die auf der nächsten Stufe unterschiedlichste Baugruppen herstellen, die bei der Produktion eines Panzers gebraucht werden. Und diese Lieferanten haben wieder Zulieferer. Eine Lieferkette besteht am Ende aus tausenden Lieferanten, die bei einem Produkt mitwirken. In der Diskussion werden die vielen Hidden Champions, die unsere Hochtechnologieleistung erst möglich machen, oft vergessen.

Schon jetzt leidet Deutschland extrem unter einem Fach- und Arbeitskräftemangel. Wer soll denn die ganzen Panzer und Waffensysteme eigentlich bauen?

In der Rüstungsindustrie arbeiten vielleicht insgesamt noch rund 65.000 Menschen. Das ist nicht viel, wenn man sich die Produktpalette anschaut. Tatsächlich ist das ein riesiger Engpass. Die Branche hat sich der Auftragslage angepasst und ist über Jahrzehnte mit geschrumpft. Personal lässt sich so schnell nicht wieder aufstocken. Es werden vor allem hoch qualifizierte Ingenieure gebraucht. Gerade bei der Herstellung zum Beispiel von Spezialmunition brauchen Hersteller sicherheitsqualifiziertes Personal. Allein deshalb gilt es eine sehr langfristige rüstungsindustrielle Strategie zu entwickeln.

Mit Andreas Glas sprach Juliane Kipper