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Lauterbachs Kohleausstieg: Krankenhausreform muss Paradigmenwechsel schaffen

Gesundheitsminister Lauterbach stellt nach und nach die Teile seiner Krankenhausreform vor. Es geht um weniger und bessere Kliniken, um Geld und ums Prinzip. Dabei stellen sich viele gesellschaftliche Grundfragen.

2019 verglich die Bertelsmann-Stiftung die Krankenhausreform mit dem Kohleausstieg. "Der Umbau ist als eine gesamtgesellschaftliche Transformationsleistung für ganze Regionen zu verstehen", schrieben die Expertinnen und Experten in dem Papier, das klären sollte, ob Deutschland die Zahl seiner Krankenhäuser nicht deutlich senken kann. Das Urteil fiel eindeutig aus: Statt der heute mehr als 1600 Krankenhäuser bräuchte man nur etwa 600, unterteilt in Regel- und Maximalversorger, so die Einschätzung.

Drei Jahre später hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach mit der Umsetzung der Krankenhausreform begonnen. Es ist eine Mammutaufgabe. Krankenhäuser können sich kaum noch finanzieren, müssen aber mit weniger Personal eine alternde Gesellschaft versorgen. Seit Jahren gibt es Kritik an der Fallpauschale und der Qualität der medizinischen Behandlungen. Lauterbach will in Zukunft medizinischen Gesichtspunkten gegenüber wirtschaftlichen wieder mehr Gewicht geben. Das bedeutet das Ende der Fallpauschalen, jener 2003 eingeführten Pauschalbeträge für vergleichbare Behandlungen.

Der Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende der Universitätsmedizin Essen, Jochen Werner, ist trotzdem enttäuscht: "Die vorgesehenen Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus, um das Gesundheitssystem und seine Krankenhäuser medizinisch, organisatorisch und finanziell zukunftsfest aufzustellen", schreibt er in einer Einschätzung. Eckpunkte der Reform sind bereits beschlossen: Es gibt mehr Geld für die Kinderversorgung, mehr ambulante Behandlungen sollen die Zahl der Klinik-Übernachtungen senken. Ein neues Instrument zur Personalbemessung soll sich an errechneten Idealbesetzungen für die Stationen orientieren.

Werner begrüßt den Vorschlag, mehr Behandlungen ambulant durchzuführen. "Ich befürworte sehr, dass man nur die Menschen ins Krankenhaus bringt, die wirklich ins Krankenhaus gehören", sagte Werner ntv.de. Bisher sei die Umsetzung dieser altbekannten Idee immer an der Vergütung gescheitert.

Jetzt ist vorgesehen, dass bestimmte Klinikuntersuchungen und -behandlungen von mindestens sechs Stunden Dauer auch ohne Übernachtung von den Krankenhäusern abgerechnet werden können. Die künftige "sektorengleiche" Vergütung liegt zwischen dem ambulanten und stationären Niveau. Weil dann weniger Nachtschichten besetzt werden müssen, könnten überdies mehr Pflegende tagsüber eingesetzt werden. In der Bertelsmann-Studie war die Zahl der Patienten, die genauso gut ambulant behandelt oder operiert werden könnten, auf etwa fünf Millionen geschätzt worden. "Das allein entspricht rund 500 mittelgroßen Krankenhäusern oder einem Drittel der Kapazität aller deutschen Allgemeinkrankenhäuser", so die Experten 2019.

"Es geht immer ums Geld"

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Werner, der gerade ein Buch über seine Ideen für das Krankenhaus der Zukunft veröffentlicht hat, beobachtet die Entwicklung aufmerksam. Schon lange sei klar, dass die kleinteilige Krankenhauslandschaft keine Zukunft habe. "Wir kommen nicht drumherum, Krankenhausbetten zu reduzieren. Es gibt eine Reihe von Häusern, die kaum überlebensfähig sind." Aber jede Entscheidung ziehe weitere nach sich. Soll ein Krankenhaus geschlossen oder neu gebaut werden, um künftig effizienter zu arbeiten? Was macht man mit Krankenhäusern, die nicht fortgeführt werden? Baut man an gleicher oder anderer Stelle neu? Investiert man gleichzeitig in klimaneutrale und nachhaltige Gebäude, was jetzt eventuell teurer ist, langfristig aber Kosten einspart?

"Es geht immer ums Geld", sagt Werner. Nicht jede geldorientierte Lösung beseitige aber auch jedes Problem im Krankenhaus. Bei den Tagesklinikaufenthalten wird das sehr deutlich. Einerseits entfällt ohne die Übernachtung das vor allem für ältere Menschen oft problematische Gewöhnen an die neue Umgebung. Je kürzer sie im Krankenhaus sind, umso niedriger ist zudem das Risiko, sich mit Keimen anzustecken, denen man in der Klinik überhaupt erst ausgesetzt ist. Vor allem für alleinlebende Menschen gibt der Krankenhausaufenthalt aber auch Sicherheit, einfach, weil Pflegende da sind.

Werner wünscht sich, "dass Patienten, die eine Krankenhausbehandlung bekommen müssen, weil sie so krank sind, dass man sie nicht ambulant behandeln kann, mit Fürsorge, Zeit und Pflege versorgt werden". Für ihn gehört zu dieser menschlichen Seite auch, "dass wir all das Wissen, dass wir über diese Patientinnen und Patienten haben, nutzen können". Die Rede ist von der elektronischen Patientenakte, die man seit Januar 2021 freiwillig nutzen kann, die nun aber die Regel werden soll, wenn man nicht ausdrücklich widerspricht. Lange wurde über Datenschutzaspekte gestritten, während Doppel- und Dreifachuntersuchungen und ihre Belastungen für Gesundheitsbudgets und Erkrankte weit weniger thematisiert wurden, ebenso wie fehlende oder geringere Behandlungserfolge durch Informationsverluste.

Bei der Schließung von Geburts- und Neugeborenenstationen in kleinen und mittleren Städten konnte man beobachten, wie emotional Menschen werden, wenn es um ihr örtliches Krankenhaus geht. "Die Menschen treibt die Sorge um, dass kein Krankenhaus in der Nähe sein könnte, dass einen versorgt, wenn man krank ist", sagt Werner. "Was wir vermitteln müssen, ist, dass nicht das Haus entscheidend ist, sondern der Ort, wo sie die bestmögliche Behandlung für ihre Erkrankung bekommen." Das sei in den kleinen Krankenhäusern nicht immer gewährleistet. Der Bertelsmann-Studie zufolge sind 57 Prozent aller deutschen Krankenhäuser kleine Kliniken mit weniger als 200 Betten. Viele seien medizintechnisch nicht adäquat ausgestattet und hätten zu wenig Fachärzte und -ärztinnen.

Reformbedarf weit über die Kliniken hinaus

Aus den oft hitzig geführten Debatten zu den Geburtshilfestationen hat Werner wichtige Erkenntnisse mitgenommen. Es brauche sehr viel Vermittlung solcher Entscheidungen und: "Man sollte Ergebnissen, die die Wissenschaft liefert, vertrauen. In der Geburtshilfe ist es eindeutig, dass die Qualität mit der Anzahl der Geburten korreliert. Das wird gar nicht genannt, ist aber vor allem bei nicht so einfachen Geburten sehr wichtig. Man braucht Erfahrungen, Ausstattungen, Personal."

Werner zweifelt nicht an der Kompetenz des Gesundheitsministers. Trotzdem bereiten ihm die Reformpläne Kopfzerbrechen. "Lauterbach hat nur vier Jahre Zeit. Was wir aber brauchen, ist ein Entwicklungsprogramm über zehn oder fünfzehn Jahre, auf das sich möglichst viele politische Parteien verständigen und diesem Weg dann verbindlich folgen." Es müsste bundesweit gedacht werden, ohne an föderalen Grenzen zu scheitern. Aus Werner Sicht sollten auch die Unikliniken einbezogen werden, um über Forschung neue Behandlungen zu ermöglichen.

Um die Krankenhäuser wirklich zukunftsfit zu machen, sieht Werner Reformbedarf weit über die Kliniken hinaus. Was ist mit den Menschen vor der Praxis- oder Krankenhausbehandlung, also mit der Prävention? Was ist nach dem Krankenhaus und nach der Rehabilitation? Wohin entwickeln sich die Berufsbilder in der Gesundheitsbranche? "Es geht um wahnsinnig viel, gesundheitlich und volkswirtschaftlich."

Der Vergleich mit dem Kohleausstieg scheint gar nicht mehr übertrieben. Doch am Kohleausstieg haben sich viele beteiligt, Lauterbach muss dieses dicke Brett vor allem allein bohren. Mehr noch als Corona ist die Reform das vielleicht wichtigste Vorhaben seiner Amtszeit. Die Abkehr von der Fallpauschale ist ein Paradigmenwechsel, der mit dem Abschied von Hartz IV mithalten kann.