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»Letzte Generation«: Wie Berlin den Protest der Klima-Aktivisten erlebt

Ernst-Reuter-Platz in Berlin: Polizisten umringen ein Mitglied der »Letzten Generation« (am Boden klebend)

Ernst-Reuter-Platz in Berlin: Polizisten umringen ein Mitglied der »Letzten Generation« (am Boden klebend)

Foto:

Thomas Victor / DER SPIEGEL

Autobahnen, Kreuzungen, Kreisverkehre: So umfassend wie an diesem Montag haben die Klimarebellen von der »Letzten Generation« noch nie den Verkehr in einer Stadt blockiert. Angemeldet hatten sich bei der Gruppe für die aktuellen Klimaproteste mehr als 800 Menschen, die Polizei war ihren Angaben nach mit etwa 500 Beamtinnen und Beamten im Einsatz – und das an mehr als 30 Orten in der Stadt.

Doch was bedeutet das schon in einer Stadt wie Berlin? Ist der Protest der Aktivisten untergegangen oder schlug er hohe Wellen? Und was sind die Geschichten hinter der Geschichte? Unsere Reporterinnen und Reporter waren dabei – inmitten von festklebenden Menschen, dringenden Bedürfnissen und Nudelsalat.

»Das sind Volksschädlinge, die haben mit unsereins gar nichts am Hut«

Frankfurter Allee/Ringcenter: Gegen halb acht schaltet die Fußgängerampel auf Grün, und acht Personen hocken sich plötzlich auf die Straße, holen orange Warnwesten aus ihren Rucksäcken und kleben sich fest. Es geht so schnell, dass man nicht mal sieht, wie sie ihre Hände mit Kleber benetzen. Ganz vorne an der Ampel steht ein Lkw, zwei der Aktivisten sitzen davor, 20 Zentimeter zwischen Kühlergrill und Kopf, ihre Stirn reicht kaum zum Nummernschild. Der Fahrer steigt aus. »Was soll das hier?! Haut ab!«. Nebenan eine Baustelle, zwei Bauarbeiter lehnen über dem Zaun: »Und wir müssen dit nu alles einatmen!« – »Dit is Umweltschutz.«

Einer der ausgestiegenen Autofahrer entreißt den Aktivisten ihre Transparente, und versucht, einen von der Straße zu schleifen. Er zieht ihn am freien Arm, der festgeklebte spannt sich wie ein Seil. Der Kleber hält. Später wird der Autofahrer auf dem Mittelstreifen zu einem anderen Fahrer sagen: »Das sind ja keine Volksfreunde, sondern Volksschädlinge, die haben ja mit unsereins gar nichts am Hut.« Nach wenigen Minuten trifft auch die Polizei ein.

Eine Tüte Nüsschen

Ernst-Reuter-Platz im Berliner Westen. Es ist 7.20 Uhr, die »Letzte Generation« packt kleine, weiße Klebertuben aus, fürs Erste blockieren 14 Menschen den vierspurigen Kreisel und eine Ausfahrt. Unbeeindruckt lenken Autofahrer über den Bürgersteig an den Aktivisten vorbei. Drei Handwerker steigen aus ihrem Transporter und machen Raucherpause. Ausrasten sieht anders aus.

Protestierende am Ernst-Reuter-Platz, nachdem sie die Polizei von der Straße geholt hat

Foto: Thomas Victor / DER SPIEGEL

Die Polizei trifft fast gleichzeitig ein. Nach nur wenigen Minuten führen sie den Ersten ab: einen Mann im elektrischen Rollstuhl. Statt sich festzukleben hat er seinen Rollstuhl in Brems-Blockade gebracht. Ohne Widerworte lässt er sich zum Straßenrand geleiten. »Kann der auch schneller?«, fragt der Polizist und zeigt auf die Knöpfchen am Rollstuhl-Touchpad.

Zur Stärkung hat der Mann ein Päckchen Nüsse dabei. In Leipzig, Hamburg und Dresden habe er schon die Straßen blockiert, sagt er. Er wirkt erschöpft, beim Sprechen schließt er die Augen. Die Angst vor der Zukunft sei es, die ihn zum Protest zwinge, sagt er später. Der Verkehr staut sich, es ist trubelig an diesem Morgen. Trotzdem liegt ein Hauch von Routine über dem Ernst-Reuter-Platz.

Ein Passant entleert Trinkjoghurt – auf die Köpfe der Blockierer

Am Schloss Charlottenburg ist es weniger ruhig. Zwanzig Minuten dauert es, bis der erste Streifenwagen eintrifft – und ein paar wütende Autofahrer wollen die Situation auf ihre Weise klären. Einer fährt einfach weiter, der Fuß eines Aktivisten gerät kurz unter den Vorderreifen.

Von hinten stürmt ein Mann auf die Protestierenden. »Haut ab, verpisst euch«, ruft er, »das ist Nötigung, ihr Wichser!« Er entreißt den Aktivisten die Banner, stopft sie in einen Mülleimer, kommt wieder, tritt mehrfach auf die Blockierer ein. Er versucht, sie von der Straße zu ziehen, auch jene, die ihre Hand angeklebt haben. Ein anderer Passant entleert zwei Flaschen Trinkjoghurt über den Köpfen der Blockierer. Als die Polizei endlich da ist, sind die Aktivisten sichtlich erleichtert.

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Der Unmut über ihre Blockade ist so groß, dass selbst erfahrene Aktivisten, die sich schon einiges von genervten Autofahrern anhören mussten, überrascht sind. Immer wieder schimpfen die Fahrer vorbeifahrender Autos über die Aktion. Der Mitarbeiter des gegenüberliegenden Tattoo-Studios macht den schaulustigen Passanten ein Angebot: »Wer als Erstes eine Hand vom Asphalt abreißt, bekommt ein Gratistattoo!«

Es dauert lange, fast zweieinhalb Stunden, bis Polizisten einer Einsatzhundertschaft vor Ort sind. Mit dabei: Pinsel und Speiseöl. Umso schneller geht das Ablösen der Hände, die Beamten sind mittlerweile erprobt. Nach 15 Minuten sind alle Blockierer von der Straße gelöst.

Spaghettisalat und Brote

Entspannt ist es dagegen in der Hauptstraße in Schöneberg. Etwa 15 Aktivisten und Aktivistinnen blockieren an zwei Punkten die Kreuzung zur Dominicusstraße. Die bereits Abgelösten sitzen auf dem Gehsteig, hektisch wird es nur kurz, als zwei Demonstranten versuchen, zurück auf die Straße zu laufen. Schnell werden sie wieder eingefangen.

Zwei junge Frauen teilen sich Spaghettisalat, andere packen Brote aus. Eine Aktivistin bittet darum, zur Toilette gehen zu dürfen und wird von einem Beamten über die Straße in ein Café eskortiert. Auch im Widerstand gibt es schließlich gewisse Bedürfnisse.

»Überfahrt die doch einfach«

Frankfurter Allee/Ringcenter: Immer mehr Polizisten treffen ein. Es zeigt sich, am leichtesten beleidigt es sich aus dem fließenden Gegenverkehr heraus: Autofahrer rufen »Überfahrt die doch einfach!«, ein anderer ruft »Drecksfotzen!«, »Sitzen da schon wieder die scheiß Terroristen«. Und der Klassiker: Man solle doch lieber arbeiten gehen.

Es dauert mehr als zwei Stunden, bis zumindest eine Spur wieder freigegeben werden kann. Den Stau hat die Polizei jedoch vorher aufgelöst, sie lotst die Autos rückwärts heraus.

Mit der Straße verwachsen: Die Polizei löst festgeklebte Aktivisten

Foto:

Thomas Victor / DER SPIEGEL

Nach der Straßenblockade der Aktivisten folgt die Aktivistenblockade der Polizei: Allen werden die Warnwesten und die Kleberreste abgenommen, dafür werden Formulare geschrieben, Durchschläge verteilt, es dauert mehr als eine Stunde. Während sie dort warten, hält ein Müllwagen auf der Straße an. Der Fahrer ruft aus dem Fenster den Polizisten zu: »Soll ich sie mitnehmen?!« und grinst.

Ein eingespieltes Spiel

Am Ernst-Reuter-Platz wirken die Aktivisten und die Polizei nahezu eingespielt. Vor wenigen Wochen blockierte die Letzte Generation hier schon einmal. Gemeinsam drehen sie sich im Kreis um den Kreisverkehr: Hat die Polizei gerade Aktivisten-Hände vom Teer gelöst und eine Ausfahrt freigegeben, pappen frische Hände an der nächsten Ausfahrt.

Die Gruppe der Entklebten am Platz-Rand wächst nach einer Stunde auf rund 15 Aktivisten. Sie sitzen auf dem Boden wie auf einem Schulhof. Eine Tupperdose mit Obstsalat wird geöffnet, sogar an eine Gabel hat die Aktivistin gedacht. Ein Polizist fragt die Gruppe, ähnlich wie ein Lehrer eine Schulklasse: »Wer möchte heute noch mal weiter protestieren?« Alle melden sich.