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Messerattacke in Brokstedt – Wenn die Frühwarnsysteme versagen

Die Blutspur zog sich durch vier Waggons – und was zurückblieb, waren eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger, beide tot, niedergestochen, sowie fünf Verletzte. Nach der Messerattacke in einem Regionalzug bei Brokstedt in Schleswig-Holstein ist bei den Ermittlungen gegen den tatverdächtigen Ibrahim A. etliches ungeklärt. Eines aber steht bereits fest: Der Fall legt einmal mehr Schwachstellen in der Sicherheitspolitik und bei Integrationsbemühungen offen.

Denn erneut stach ein Mann zu, der bereits zuvor durch Gewaltdelikte aufgefallen war. Erneut war es ein Asylsuchender. Erneut gab es Warnzeichen, die die Verantwortlichen aber übersahen oder ignorierten.

Ibrahim A., geboren 1989 in Gaza, reiste im Dezember 2014 nach Deutschland ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ab, gewährte ihm aber subsidiären Schutz. In Nordrhein-Westfalen fiel er schnell auf, die Polizei ermittelte wegen Ladendiebstahl, Missbrauch von Scheckkarten, sexueller Nötigung – und mehrfach wegen gefährlicher Körperverletzung.

Das BAMF leitete ein sogenanntes Rücknahmeverfahren ein. Eine Abschiebung wäre aber kaum möglich gewesen. Es hätte sich kein Land gefunden, das den staatenlosen Palästinenser aufgenommen hätte.

In Deutschland kam Ibrahim A. nie wirklich an. Er lernte die Sprache nicht, nahm Heroin. In Hamburg bedrohte er in einem Heim für wohnungslose Geflüchtete seine Mitbewohner mit einem Messer. Im November 2021 reagierte die Leitung des Hauses: Sie führte Ibrahim A. aber nicht einer psychologischen oder psychiatrischen Betreuung zu, um Schlimmeres abzuwenden. Sie erteilte ihm Hausverbot.

Das Unheil nahm seinen Lauf. Im Januar 2022 stach Ibrahim A. vor einer Tagesstätte für Wohnungslose in Hamburg auf einen Mann ein. Das Amtsgericht Hamburg verurteilte ihn im August 2022 zu einer Haftstrafe von einem Jahr und einer Woche. Ibrahim A. legte Berufung ein, das Urteil wurde nicht rechtskräftig.

Entlassen aus der Untersuchungshaft

Am 19. Januar dieses Jahres kam Ibrahim A. auf freien Fuß. Denn die Dauer seiner Untersuchungshaft hatte bereits annähernd das verhängte Strafmaß erreicht. Eine weitere U-Haft wäre nicht verhältnismäßig, entschied eine Richterin. Was dann geschah, ist bekannt. Drei Tage später bestieg A. den Regionalzug von Hamburg nach Kiel und stach auf Mitreisende an, so der aktuelle Stand der Ermittlungen.

Bei der Festnahme habe Ibrahim A. einen „ruhigen Eindruck“ gemacht, sagte Frank Matthiesen, Polizeichef von Itzehoe. Matthiesen sagte aber auch: Wer in einer Weise wie mutmaßlich Ibrahim A. sechs Menschen schwer verletzt habe, sei wohl „nicht ganz normal“.

War Ibrahim A. psychisch gestört? Hätten staatliche Stellen dies erkennen und die Öffentlichkeit vor ihm schützen müssen? Nach der Messerattacke vor der Unterkunft für Wohnungslose im Januar 2022 stellte ein Sachverständiger vor Gericht keine psychische Beeinträchtigung fest. Auch in der Untersuchungshaft erklärte ein Gutachter – nachdem A. Mitgefangene attackiert hatte –, eine Eigen- oder Fremdgefährdung sei nicht erkennbar.

War der Täter eine tickende Zeitbombe? – „Bei allem, was man jetzt weiß: Ja“

Nach dem Messerangriff eines staatenlosen Palästinensers in einem Zug zeigt sich ein augenscheinliches Behördenversagen im Vorfeld der Tat. Ibrahim A. war der Polizei bereits bestens bekannt. „Er ist hier mehrfach aktenkundig geworden“, so Alexander Dinger, WELT-Reporter Investigation und Reportage.

Quelle: WELT

Ob die Einschätzung korrekt war, wird sich im Fall einer Anklage vor Gericht erweisen. Sicher scheint das nicht. Denn zurückliegende Fälle nähren die Frage, ob psychische Störungen mitunter womöglich nicht als solche benannt werden – weil die zuständigen Stellen mit der Behandlung all dieser Fälle hoffnungslos überfordert wären.

Da wäre der Fall des Abdirahman Jibril A. 2021 stach der Somalier in Würzburg drei Frauen tödlich nieder. Aufgefallen war er bereits zuvor – durch Bedrohungen und wirre Aktionen. Trotz Antrags einer psychiatrischen Einrichtung erhielt er jedoch keinen Betreuer. Ähnliches ereignete sich in Berlin. Im September 2021 stach ein afghanischer Flüchtling eine Frau nieder, die er zuvor islamistisch beschimpft hatte. Auch er hatte zuvor Gewaltfantasien geäußert. Doch ein Mediziner sah keine Gefährdung – und lehnte eine Unterbringung ab. Die psychische Erkrankung stellte erst der Gutachter vor Gericht fest.

Asylbewerber sind durch Flucht und Gewalt oft traumatisiert, darauf weisen Experten seit Jahren hin. Eine psychosoziale Begleitung erhalten sie nach Angaben der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) aber nur selten. BAfF-Geschäftsführer Lukas Welz sagte WELT AM SONNTAG , dass 2020 fast 10.000 Menschen „aufgrund mangelnder Kapazitäten“ abgelehnt worden seien.