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News des Tages: Heizen, Robert Habecks Gaskrise, Russlands Scheinreferenden

1. Heizen Sie schon?

»Heizt ihr schon?« ist das neue »Seid ihr schon geboostert?«. Im Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreis dominiert die Frage, ob es bei 18 oder 19 Grad okay ist, die Heizung aufzudrehen. Die ganz Harten halten angeblich 17 Grad im Arbeitszimmer aus, die ganz Smarten stellen sich ein Laufband ans Stehpult. Überraschend, wie viel Smalltalk sich mit Wollsocken und Strickpullovern bestreiten lässt. (Tipps eines Energieberaters finden Sie hier  .)

Frieren für den Frieden – mehrheitsfähig scheint das nicht. Viele entscheiden sich in diesen Tagen fürs Heizen, wie mein Kollege Holger Dambeck berichtet . Seine Datenanalyse zeigt: Ende September ist der Verbrauch deutlich angestiegen, dahinter stehen vor allem Kleinverbraucher. »Den Berechnungen zufolge haben diese Kunden im August Gas eingespart«, so Holger. »In den vergangenen Tagen lag der Verbrauch dann aber über dem Durchschnittswert der Vorjahre für diesen Zeitraum.«

Zuletzt waren die Preise an Europas Gasbörsen trotz Krise gesunken, die deutschen Gasspeicher sind zu mehr als 90 Prozent gefüllt. Sollte es nicht extrem kalt werden oder zu größeren Lieferunterbrechungen etwa aus Norwegen oder den USA kommen, ist ein Gasmangel in Deutschland in diesem Winter aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Womöglich könnte es aber im Winter 2023/2024 nochmals eng werden, wenn Russland gar kein Gas mehr liefert.

2. Das nukleare Krötenmenü des Robert Habeck

Einst blaffte Gerhard Schröder, in einer rot-grünen Koalition müsse klar sein, »wer Koch und wer Kellner ist«. In der Ampelkoalition, in der Rote wie Grüne mit der FDP jetzt, nun ja, zusammenarbeiten, ist kaum zu klären, wer kocht und wer kellnert – zumal das Menü eh fast nur aus Kröten besteht.

Robert Habeck scheint es immerhin zu gelingen, seinen Leuten die dicksten Kröten halbwegs schmackhaft zu machen: Jetzt sollen die Kernkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim bis April 2023 weiterlaufen, wie er gestern der Grünenfraktion im Bundestag erklärte. Der Atomausstieg ist damit offiziell um ein Vierteljahr verschoben; ein Aufstand in Partei und Fraktion blieb aus. »Ja, es regt sich Protest und Kritik bei einigen Grünen«, sagt meine Kollegin Marina Kormbaki aus unserem Hauptstadtbüro, »aber die allermeisten sehen es pragmatisch – und folgen Habeck.«

Das Rezept des Klimaministers und Vizekanzlers ist ein performativer Akt, eine Art Kröten-Showkochen in Etappen: Erst ein angewiderter Blick, seht her, eine Kröte, würde ich nie essen (»Wir haben aktuell ein Gasproblem, kein Stromproblem« ). Dann der nachdenkliche Blick, ja, es ist eine Kröte, aber wenn's nicht anders geht, wer weiß, wie sie schmecken würde (»Einsatzreserve für den äußersten Notfall«). Und schließlich der überzeugte Blick, hier haben wir Kröte für Sie, alles andere ist aus (»Stand heute halte ich das für notwendig«).

Vielleicht schickt Habeck so auch einen kleinen Gruß in die Küche: Mit den anderen Krötenköchen Scholz und Lindner muss er über die Gasumlage verhandeln und kann jetzt darauf verweisen, dass seine Leute schon genug geschluckt haben. So oder so: »Die Atomfrage dürfte den geplanten Bundesparteitag der Grünen im Oktober beherrschen«, sagt Marina. »Offen ist, ob bis dahin der Widerstand größer wird.«

Und Gerhard Schröder? Der serviert schon lange nur noch, was in Moskau zusammengebraut wird.

3. Scheinselbstverständlichkeiten

Scheinreferenden beendet – wie weiter? Politisch und propagandistisch scheint die Sache klar: Der Kreml behauptet, die vier besetzten Gebiete in der Ost- und Südukraine wollen Russland beitreten. Über 97 Prozent der Leute hätten dafür gestimmt. Heute haben Separatisten-Anführer um »Anschluss an Russland« gebeten. Anfang kommender Woche wollen die beiden russischen Parlamentskammern über die Annexionen entscheiden.

Journalistisch und sprachlich hat es einige Redaktionen vor Herausforderungen gestellt, den Sachverhalt in den Schlagzeilen sauber darzustellen. Denn eine Überschrift wie »Russland verkündet Ergebnis von Referenden: 97 Prozent für Beitritt« mag zwar sachlich wirken, ist aber nur scheinbar objektiv. Sie verfälscht, weil sie alles Relevante verschweigt: Die Abstimmungen waren inszeniert, nicht einmal um den Anschein demokratischer Mindeststandards hat sich jemand bemüht. Laut Medienberichten wurden Flüchtlinge und Kriegsgefangene zur Wahl gezwungen , bewaffnete Soldaten gingen demnach von Tür zu Tür, in Videos waren durchsichtige Wahlurnen zu sehen. Es handelt sich um einen Bruch des Völkerrechts, kaum ein Staat wird die Annexion anerkennen.

Allerdings will keine informierte Leserin, kein informierter Leser mit dem Holzhammer belästigt werden. Schlagzeilen wie »Russland verkündet Pseudo-Ergebnisse von inszenierten Scheinreferenden« wirken so elegant wie jemand, der beim Erzählen einer Geschichte ständig mit Zeige- und Mittelfinger ironisierende Anführungszeichen winkt. Bestimmt liegen wir beim SPIEGEL auch immer mal wieder daneben, aber manchmal muss man eben auch über Scheinselbstverständlichkeiten aufklären.

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Von der Leyen bringt neue Sanktionen gegen Russland ins Spiel: Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen verschärfen sich weiter. Nun will die EU-Kommission neue Sanktionen auf den Weg bringen – und Moskau den Uno-Sicherheitsrat einberufen.

  • »Sie holen dich, sagen, ›nimm zu essen und warme Kleidung mit‹, und bringen dich zum Bus«: In Russland herrschen Chaos und Willkür bei der Einberufung von Reservisten für den Ukrainekrieg. Dem SPIEGEL erzählen sieben Russinnen und Russen von ihren Ängsten – und darüber, wie sie sich vor den Behörden verstecken .

  • »Unsere Kinder sind kein Dünger«: Putin braucht frische Truppen im Krieg gegen die Ukraine – und in den meisten Regionen Russlands bleibt es ruhig. In Dagestan allerdings demonstrieren Frauen gegen die Einberufung ihrer Männer, Brüder und Söhne .

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

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Was heute sonst noch wichtig ist

  • Norwegen will seine Öl- und Gasanlagen militärisch schützen: Nach den mutmaßlichen Attacken auf die Nord-Stream-Pipelines hat Norwegen eine verstärkte Bewachung seiner eigenen Anlagen angekündigt. An potenzielle Angreifer sprach Premier Jonas Gahr Støre eine Warnung aus.

  • So viel verdienen die Dax-Bosse: Die Konjunktur leidet, doch die Vorstandsgehälter steigen: Trotz Pandemie haben deutsche Konzernchefs 2021 mehr verdient. Der Abstand zu den Beschäftigten wächst.

  • Verfassungsgericht hält Wahlwiederholung in Berlin für möglich: Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus muss wegen des chaotischen Ablaufs möglicherweise komplett wiederholt werden. Zu dieser vorläufigen Einschätzung kommt der Verfassungsgerichtshof in der Hauptstadt.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Bundesfinanzministerium bremst offenbar Aufklärung in Cum-ex-Affäre: Ein vertrauliches Protokoll aus dem Finanzausschuss des Bundestags könnte Kanzler Scholz im Cum-ex-Skandal schaden. Die Union würde das Dokument gern veröffentlichen. Doch es gibt Probleme .

  • Bin ich zu dumm, um dieses Formular auszufüllen? Haben Sie schon Ihre Erklärung zur neuen Grundsteuer abgegeben? Ich wünsche Ihnen viel Erfolg; vielleicht sind Sie ja schlauer als ich .

  • Diese Frau will alle 14 Achttausender in einem halben Jahr besteigen: Der nepalesische Bergsteiger Nims Purja bestieg als erster und bislang einziger Mensch alle Achttausender in Rekordzeit. Eine Norwegerin will nun zeigen, dass das keine Männersache ist .

  • »Ich mache mir nichts aus dieser Sell-out-Scheiße«: Punk’s not dead, sondern ein Zombie: Dieser Tage startet auf Disney+ eine neue Serie über die Sex Pistols. Gründungsmitglied Steve Jones im Gespräch über Missbrauch, Kommerz – und den Konflikt mit John Lydon .

Was heute weniger wichtig ist

Illustration: Thomas Plaßmann

Und heute Abend?

Könnten Sie sich die umstrittene Marilyn-Huldigung »Blond« angucken, die seit heute bei Netflix zu sehen ist. Mein Kollege Wolfgang Höbel traf die Hauptdarstellerin Ana de Armas in Venedig, er findet, sie spiele Marilyn Monroe »wirklich hinreißend«. De Armas habe sich die Sprechweise der von ihr verkörperten Heldin auf »fast grotesk gründliche Weise« antrainiert. »Selbst das Schmachten, mit dem Monroe in ihren Sätzen den Buchstaben O auszusprechen verstand, beherrscht sie virtuos.«

Es handele sich nicht um ein gewöhnliches Biopic, findet Wolfgang, sondern um eine Psychostudie, in der die Kindheitshölle von Norma Jeane Baker, wie Marilyn Monroe mit richtigem Namen hieß, als Verhängnis ihres Lebens dargestellt wird. (Hier finden Sie seinen Text .)

Ihnen einen unterhaltsamen Abend. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp

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