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News des Tages: Wladimir Putin, Lützerath, USB-C

1. Putins Bunkermentalität

Während dem russischen TV-Publikum am Wochenende eine gut gelaunte Frontreportage aus der Region Cherson gezeigt wurde, in der es um heiße Duschen und frisch gebackenes Brot für russische Soldaten ging, machte sich unter Putins Hardlinern eine gedrückte Stimmung breit. Ann-Dorit Boy und Alexander Sarovic aus unserem Auslandsressort beschreiben, wie der chaotische Rückzug russischer Soldaten entlang des Flusses Dnjepr für Depression bei russischen Propagandisten sorgt  .

Igor Strelkow, der 2014 für Moskau den inszenierten Aufstand im Gebiet Donezk anführte, schrieb von verlorenen Monaten. Es würden weitere Wochen vergehen, in denen man nur in der Lage sein werde, sich zu verteidigen und »zurückzuziehen«.

Der sonst so kampfeslustige Kriegshetzer Wladimir Solowjow mahnte in einer Talkshow, man dürfe jetzt keine schnellen Erfolge erwarten. Ein Putin-Statthalter in der teilweise besetzten Region Cherson behauptete in einem Video zwar, die Lage sei unter Kontrolle. Allerdings hatte er sich, wie die Kamera verriet, selbst bereits auf das Ostufer des Dnjepr gerettet, also weit weg von den ukrainischen Truppen.

Zerstörter russischer Schützenpanzer in Isjum im Osten der Ukraine

Foto: Evgeniy Maloletka / dpa

»Der Graben zwischen Putins Wunsch und der Wirklichkeit hat sich noch einmal erheblich vergrößert«, schreiben Ann-Dorit und Alexander. Die Frage drängt sich auf: Bekommt Putin in seiner Bunkermentalität noch mit, wie sich die Lage entwickelt?

Unser Kolumnist Nikolaus Blome hat daran inzwischen Zweifel, die auch von Einschätzungen aus dem Kanzleramt in Berlin genährt werden. Er schreibt: »Das Kanzleramt geht derweil davon aus, dass der Kreis um Putin fast nur noch aus Stiernacken der Sicherheitsdienste besteht. Nach Lage der Dinge hat er mit der von ihnen vorgeschlagenen Teilmobilisierung der Reservisten die allerletzte politische Ausfahrt für sich verpasst. Solange Putin im Amt ist, gibt es kein Lockern der Sanktionen und keinen Frieden. Wer in Russland beides irgendwann will, muss an Putin vorbei. Das nennt man wohl Endspiel.«

Nikolaus stellt einen – etwas gewagten – Vergleich mit den letzten Tagen von Hitler auf, wie sie im Film »Der Untergang« von Oliver Hirschbiegel dargestellt wurden. Ähnlich wie Hitler, der am Ende immer absurdere militärische Befehle erteilte, soll Putin nach Recherchen der »New York Times« angeordnet haben, dass die russische Armee sich nicht aus Cherson zurückziehen dürfe. Mit dem Ergebnis, dass 20.000 Soldaten nahezu abgeschnitten wurden.

Führen auch Putins Generäle inzwischen zwei Statistiken über die russischen Verluste: eine echte und eine geschönte, um den Herrscher nicht zu reizen?

Sicher ist: Sollte die These vom zunehmend irrationalen Putin stimmen, wäre das keine gute Nachricht. Während Hitler von Wunderwaffen nur faseln konnte, stehen Putin echte Massenvernichtungswaffen in großer Zahl zur Verfügung.

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • »Es ist unmöglich, jeden Ort zu jeder Zeit zu überwachen«: Der Ukrainekrieg hat die Sicherheitslage in der Ostsee verändert. Schwedens Marinechefin Ewa Skoog Haslum über russische Provokationen – und die Ermittlungen zur mutmaßlichen Sabotage an Nord Stream 1 und 2 .

  • Lauterbach rudert nach Putin-Aussage zurück: »Wir sind im Krieg mit Putin«: So klar hatte Karl Lauterbach sich positioniert. Verteidigungsministerin Lambrecht widersprach ihm prompt. Seine Parteikollegin habe »völlig recht«, räumt der Gesundheitsminister nun ein.

  • EU-Kommission befürchtet Stromausfälle und andere Notlagen in Europa: Die EU treibt die Sorge um, dass der Energiemangel infolge der Russlandsanktionen noch zu großen Versorgungsproblemen führen könnte. Ein zentraler Kriseninterventionsplan soll helfen.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

2. Bagger frei in Lützerath

Die vom Klimaaktivisten besetzte ehemalige Siedlung Lützerath im Braunkohlerevier Garzweiler wird abgebaggert werden. Das teilte heute die grüne Wirtschaftsministerin von Nordrhein-Westfalen, Mona Neubaur, mit. Im Gegenzug soll die Braunkohleverstromung des Energiekonzerns RWE bereits 2030 enden, acht Jahre früher als bislang geplant.

Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sprach deshalb von einem »guten Tag für den Klimaschutz«, was in seiner Partei freilich nicht alle so sehen. Die Nachwuchsorganisation Grüne Jugend, die enge Beziehungen zum Protestcamp unterhält, twitterte: »Lützerath darf nicht fallen!«

Man könnte sagen: Willkommen in der harten Wirklichkeit, liebe Grüne. Nachdem der Plan, mit billigem Erdgas aus Russland eine Brücke in die Erneuerbaren-Zukunft zu bauen, von Putin in die Luft gesprengt wurde, braucht es nun umso mehr Kohle, um Deutschland mit Energie zu versorgen. Zumindest vorübergehend, bis es genug Windräder, Solardächer und vor allem Speichermöglichkeiten gibt. Nun gut, man könnte stattdessen auch auf Atomkraft oder auf Frackinggas aus Deutschland setzen. Zumal es im Vergleich zur Kohle die klimafreundlichere Alternative wäre. Doch hier steht den Grünen neben technischen und finanziellen Hürden die Parteifolklore im Weg.

Die Aktivistinnen und Aktivisten in Lützerath dürften sich allerdings verraten fühlen. Meine Kollegen Lukas Eberle, Tobias Großekemper und Benedikt Müller-Arnold haben sich in den vergangenen Wochen im Protestcamp umgehört, sie schreiben : »Die Siedlung am Tagebau ist aufgeladen mit Symbolik und Weltpolitik. Greta Thunberg war schon zu Besuch, Luisa Neubauer und die ugandische Klimaschützerin Vanessa Nakate. Lützerath ist zum Wallfahrtsort von Aktivisten geworden, zu einem ihrer wichtigsten Schauplätze im Kampf um das 1,5-Grad-Ziel. Sie organisieren immer wieder Demonstrationen, an denen Tausende Menschen teilnehmen.«

Einige der Aktivisten hatten vor vier Jahren bereits den Hambacher Forst besetzt. Der Wald zwischen Köln und Aachen, der ebenfalls an einem RWE-Tagebau liegt, wurde von der Polizei geräumt. Einsatzkräfte zerrten damals Aktivisten aus den Baumhäusern, diese warfen mit Fäkalien, ein Student kam bei einem Sturz ums Leben.

Nun bereiten sich die Aktivisten auf den nächsten Kampf vor , schreiben meine Kollegen: »Auf einer Sperrholzplatte im Camp hängen Plakate, darauf ein Stundenplan mit ›Workshops‹, die in den kommenden Tagen angeboten werden: ›Sich-Anketten‹, ›Barrikadenplenum‹, ›Bagger besetzen leicht gemacht‹«.

Im Kampf um den Hambacher Forst hatten die Klimaprotestler große Teile der Öffentlichkeit auf ihrer Seite, es ging um alte Bäume und seltene Tierarten. In Lützerath hingegen gibt es kaum etwas außer halb verfallenen Gebäuden. Auch der letzte ursprüngliche Dorfbewohner hat mit einer Entschädigung sein Haus verlassen. Werden demnächst hier Molotowcocktails fliegen und Schlagstöcke geschwungen?

Meine Kollegen haben eine Aktivistin gefragt, ob sie Gewalt anwenden würde, um Lützerath zu schützen. Zuerst mochte sie nicht darauf antworten; dann sagte sie: »Gesellschaftliche Veränderungen wurden nie nur friedlich erkämpft.«

3. Tschüss, Ladekabelchaos

In der EU wird es bald einen einheitlichen Ladestecker für Smartphones geben. Das EU-Parlament hat in Straßburg für die Einführung des Steckers im Format USB-C als Standard gestimmt. Spätestens von Herbst 2024 an sollen alle Handys, Tablets und Digitalkameras mit dem gleichen Gerät aufladbar sein, ebenso Lautsprecherboxen, Kopfhörer, Mäuse und Drucker. Mit der Regelung wird vor allem Apple gezwungen, seinen Anschluss durch ein kompatibles System zu ersetzen.

Die Vereinheitlichung werde zur Verringerung von mehr als tausend Tonnen Abfall in der EU pro Jahr beitragen, sagte heute EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Der Einigung müssen jetzt nur noch die Mitgliedstaaten formell zustimmen, was laut einer Sprecherin des Rats noch im Oktober passieren soll.

Ich muss gestehen, dass die Nachricht vom Einheitsstecker bei mir gemischte Gefühle auslöst. Einerseits Erleichterung, dass die ständige Suche nach dem passenden Kabel endlich ein Ende haben wird. Andererseits besteht die Gefahr, dass die EU einen Stand der Technik festschreibt, der noch nicht die Beste aller Lösungen darstellt. Man stelle sich vor, Deutschland hätte vor Jahrzehnten den ollen DIN-Stecker zur Vorgabe für alle in Deutschland verkauften Stereoanlagen gemacht, anstatt sich der Cinch-Kabel-Konkurrenz aus den USA und Japan zu stellen: Das wäre wohl kaum im Interesse der Musikliebhaber gewesen.

Man kann über Apple viel Schlechtes sagen. Aber mit dem Vorwurf mangelnder Innovationsfreude wäre ich zurückhaltend. Müsste eine EU-Wettbewerbskommissarin nicht auch darauf achten, dass sie den Wettbewerb um die beste technische Lösung in Gang hält?

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Was heute sonst noch wichtig ist

  • Ungeklärte Gaspreisbremse – Entscheidung über weitere Entlastungen wird wohl vertagt: Die steigenden Energiepreise sind zentrales Thema beim Treffen von Bund und Ländern am frühen Abend. Teilnehmer erwarten aber in wichtigen Fragen keinen Durchbruch.

  • Ampel spricht sich für Wiederholung in rund 300 Wahllokalen aus: Lange Schlangen vor Wahllokalen, Stimmabgabe nach 18 Uhr: Bei der Bundestagswahl lief in Berlin einiges durcheinander. Die Ampelparteien sehen eine teilweise Wiederholung der Wahl als geboten an.

  • Nobelpreis für Physik geht an drei Quantenforscher: Die Schwedische Akademie der Wissenschaften zeichnet Alain Aspect, John F. Clauser und Anton Zeilinger mit dem Physik-Nobelpreis aus. Sie werden für ihre Arbeit auf dem Gebiet der Quantenphysik geehrt.

  • Britische Regierung will Haushaltsplan doch nicht vorziehen: Kommt er nun, kommt er nicht? Britische Medien berichteten, Kwasi Kwarteng plane, seinen Haushaltsplan früher vorzustellen, um die Märkte zu beruhigen. Laut dem Finanzminister ein Missverständnis.

  • Zahl der Lehramtsabsolventen um 13,8 Prozent gesunken: An vielen Schulen sind Stellen nicht besetzt. Händeringend warten Lehrkräfte deshalb auf neue Kollegen. Zwar schlossen zuletzt mehr Studierende ein Lehramtsstudium ab, dennoch sind es weniger als vor zehn Jahren.

Meine Lieblingsgeschichte heute: Das selbstheilende Herz

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigste Todesursache in Deutschland, also hat mein Kollege Jörg Blech die Ärztin Carolin Lerchenmüller gefragt, was man tun kann, damit das Herz gesund bleibt. Ihre Antwort war so enttäuschend wie erwartbar: Sport treiben, gesundes Essen, viel Schlaf und nicht rauchen. So gesehen habe ich in meinem Leben fast alles falsch gemacht. Zu spät, habe ich gedacht.

Doch dann kam Lerchenmüllers gute Nachricht; sie lautet: Es gibt vielleicht eine zweite Chance. In einer Studie an Mäusen hat sie herausgefunden, dass das Herz entgegen der bisherigen Annahmen offenbar doch in der Lage ist, neue Zellen zu bilden. »Herzmuskelzellen können durch den Alterungsprozess und durch Erkrankungen verloren gehen«, sagt Lerchenmüller im Interview, aber »unsere Studie legt nahe, dass wir das Gleichgewicht in Richtung Neubildung verschieben können. Vielleicht können wir das Herz durch regelmäßige körperliche Bewegung verjüngen.«

Das Herz verjüngt sich selbst: eine tröstliche Vorstellung.

Was muss ich tun, um die Selbstheilungskräfte in Gang zu bringen? Nun, dreimal dürfen Sie raten. »Wir empfehlen aktuell tatsächlich vor allem regelmäßige körperliche Aktivität«, sagt Lerchenmüller, »am besten an fünf Tagen je 30 Minuten«.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Warum ist Fracking so umstritten? In Niedersachsen gibt es gigantische Erdgasvorkommen, die Deutschland über 20 Jahre mit Energie versorgen könnten – doch im Landtagswahlkampf meiden die großen Parteien das Thema lieber .

  • So heizt Deutschland: Die Heizkosten explodieren, Experten warnen vor einer Gasmangellage. Wer ist besonders abhängig von einer stabilen Versorgung und wie groß sind die Sparpotenziale? Ein Überblick zum Beginn der Heizsaison .

  • Wo Europas letzter Feudalherr lebt: Feudalismus – gab es das nicht im Mittelalter? Ja. Aber auf dem Inselchen Sark hat er sich bis heute gehalten. Nun müssen sich die Einwohner zwischen alter Ordnung und neuen Anforderungen behaupten. Ein Besuch .

  • Tesla für Trucker: Logistikriese DB Schenker hat 1500 Exemplare eines neuartig konstruierten Lkw bestellt: Der Volta Zero zeigt, wie Innovationen das Wesen der Brummis verändern könnten – zum Besseren. Eine Testfahrt .

Was heute weniger wichtig ist

Kryptisch: Kim Kardashian, 41, hat auf ihrem Instagram-Account eine Kryptowährung empfohlen, dabei aber verschwiegen, dass sie für diese Werbung bezahlt wurde. Das kommt sie nun teuer zu stehen. Die Internetberühmtheit muss bei einem Vergleich mit der US-Börsenaufsicht SEC 1,26 Millionen Dollar an Bußgeldern und Entschädigungen zahlen, wie die Behörde gestern mitteilte. Die US-Börsenaufsicht warnt Anleger schon seit Jahren vor zweifelhaften Investmenttipps von Promis mit hoher Reichweite im Internet, insbesondere bei hochspekulativen Kryptoanlagen. 2018 hatte die US-Börsenaufsicht bereits Boxstar Floyd Mayweather, 45, und Hip-Hop-Produzent DJ Khaled, 46, hohe Geldstrafen aufgebrummt, weil sie auf ihren Social-Media-Kanälen unlautere, bezahlte Promo-Aktionen für Geschäfte mit Digitalwährungen machten.

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Die Frau soll die Vase noch nie gesehen gehaben.«

Cartoon des Tages: Kreml...Drohungen reißen nicht ab

Illustration: Thomas Plaßmann

Und heute Abend?

Unsere Literaturkritikerin Elke Heidenreich beschäftigt sich in der neuen Folge ihrer Videokolumne mit den Brüdern Goncourt und der Belle Époque. Die Brüder zeichneten in ihren Tagebüchern ein schonungsloses Bild der feinen Pariser Gesellschaft im 19. Jahrhundert; sie notierten Peinlichkeiten und Affären, aber »nicht wie Klatschtanten«, sagt Elke Heidenreich, »sondern als sehr gescheite Chronisten ihrer Zeit«. Gleichzeitig aber bekamen sie nicht mit, was sich in ihrem eigenen Haus abspielte: das Drama von Rose, dem Hausmädchen, das ein Doppelleben führte, von einem nichtsnutzigen Mann ausgenutzt wurde, heimlich ein Kind gebar und es später beerdigte und dabei ihre Arbeitgeber nach Strich und Faden belog und beklaute.

Über diese komplexe Konstellation hat der Schweizer Autor Alain Claude Sulzer nun einen Roman geschrieben, den Heidenreich aufs Wärmste empfiehlt: »Wir haben es hier mit einem sehr eleganten Autor zu tun, der mit einer vornehmen, anmutigen, leisen Sprache so schreibt, wie es heute kaum noch jemand kann«, sagt sie, »und dieses Buch ist beides, ist ein Stück Zeitgeschichte und ein ganz wunderbarer Roman.«

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Alexander Neubacher

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