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News: Macht Friedrich Merz beim Doppelpass auf Roland Koch? WM heute, Tagesspiegel

1. Verzockt sich die Union beim Doppelpass?

»Wo kann ich gegen die Ausländer unterschreiben?« Solche Fragen bekamen die CDU-Wahlkämpfer zu hören, als Roland Koch seine Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft lostrat; 1999 war das. Jetzt, fast ein Vierteljahrhundert später, stellt sich für die Union wieder die Frage, wie sie sich positioniert. Im Kanzleramt sitzt - wie damals - ein Sozialdemokrat, der mit seiner Koalition die Einbürgerung erleichtern will (wie genau, steht hier  ).

Und die Union? Scheint wieder auf Populismus zu schalten, hat ja beim Bürgergeld auch funktioniert. CDU-Chef Friedrich Merz warnt vor Einwanderung in die Sozialsysteme. Der deutsche Pass dürfe nicht entwertet werden, sagt der CDU-Generalsekretär. Vom innenpolitischen Sprecher der Fraktion kommen Sätze wie: »Anstatt die Migration zu steuern, verteilt die Ampel immer mehr Bleiberechte für abgelehnte Asylbewerber.« Er wettert gegen den Doppelpass und findet, man dürfe ein »Bekenntnis für Deutschland« erwarten.

Aber womöglich verzockt sich die Union diesmal: »Es ist fraglich, ob ihr derartiger Populismus, wie ihn Koch pflegte, heute hilft, ein schärferes Profil, größere Beliebtheit und irgendwann auch mehr Stimmen zu gewinnen«, sagt mein Kollege Martin Knobbe aus unserem Hauptstadtbüro. »Allzu bitter erinnern sich CDU und CSU noch an den jahrelangen Streit zwischen der damaligen Kanzlerin Merkel und dem damaligen Innenminister Seehofer über eine angemessene Asyl- und Flüchtlingspolitik.« Er fand 2018 einen vorläufigen Höhepunkt, als die Fraktionsgemeinschaft auf dem Spiel stand. »Spätestens da wurde klar, dass ein großer, eher christlich geprägter Teil in der CDU mit einem allzu harten Kurs gegen Asyl, Einwanderung und Einbürgerung seine Schwierigkeiten hat.«

Der Bundeskanzler hat heute den Plan verteidigt, doppelte Staatsbürgschaften zu erleichtern. Er habe nie verstanden, sagte Olaf Scholz, warum man so vehement darauf bestehe, dass die alte Staatsbürgerschaft abgegeben werden müsse: »Zugehörigkeit und Identität sind nämlich kein Nullsummenspiel.« Die Union wird nun rechnen müssen.

2. Checkpoint of no return

Der Berliner »Tagesspiegel« erfindet sich neu und will die Konkurrenz von SZ und FAZ angreifen - mit einer komplett umgestalteten, gedruckten Zeitung. Das Traditionsblatt wurde ins Tabloid-Format geschrumpft, hat dafür aber mehr Seiten bekommen. »Statt Wirtschafts- und Politikteilen, die sich am Frühstückstisch leicht trennen lassen, besteht das neue Format nur noch aus zwei geklammerten Teilen zu je 40 Seiten: einmal national, einmal lokal, beides recht handlich«, berichtet mein Kollege Anton Rainer, der sich eine Probeausgabe vorab angucken konnte (hier mehr ).

Der erste Produktionstag sei super gelaufen, sagt Co-Chefredakteur Lorenz Maroldt kurz vor Redaktionsschluss, auch wenn im Tageszeitungsgeschäft immer gelte: »Hundertprozentig zufrieden biste nie.« Heute seien sie der Zufriedenheit aber sehr nah gekommen. Am Abend wollen sie dem Verleger Dieter von Holtzbrinck die erste neue Ausgabe in die Hand drücken. Auch die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey hat sich angekündigt, die sonst eher wenig zu feiern hat.

Die Feierlaune sei den Kolleginnen und Kollegen vom »Tagesspiegel« gegönnt, auch aus ganz persönlichen Gründen: Es ist die Zeitung meiner Kindheit, bei meiner Mutter liegt sie noch immer jeden Morgen auf dem Frühstückstisch. Während eines Praktikums im Wirtschaftsteil konnte ich mir ein paar Euro Zeilenhonorar durch Befüllung einer Rubrik namens »Parkettgeflüster« erschleichen, äh, erschreiben. Und man muss sich in unserer Branche freuen über jeden Versuch, eine journalistische Höllenmaschine zu bauen, wie Constantin Seibt es einmal nannte  . Auch über einen Umbau.

3. WM in Hülle und Fülle

Seien wir ehrlich, das heutige Unentschieden (3:3 Kamerun gegen Serbien) wird die Gespräche an den Abendbrottischen und Kneipentresen weniger beherrschen als das gestrige, bei dem etwa 17 Millionen TV-Zuschauer einschalteten (Sie wissen, welches ich meine).

Für die Deutschen könnte das 1:1 ein Wendepunkt bei der WM sein, berichten meine Kollegen Jan Göbel und Danial Montazeri aus Doha: »sportlich, für die Stimmung im Team und beim Publikum«. Ähnliche Erweckungsmomente habe es zwar auch 2018 und 2021 gegeben. Doch sei diesmal etwas anders: »Die Mannschaft heute ist deutlich stärker als die, die 2018 ausgeschieden ist.« (Lesen Sie hier, wie gut Deutschland wirklich ist. )

Seien wir ehrlich, das gestrige Unentschieden wird an zahlreichen Keipentresen der Anlass zu mittelprächtigen Wortspielen a la »Füll mir den Krug!« gewesen sein. Meinen Kollegen Christoph Scheuermann hat es zu seiner WM-Mini-Kolumne inspiriert:

Warum bekomme ich Angst, wenn sich Deutsche übermäßig freuen? Vielleicht weil wir immer ein bisschen zu laut sind, die Jubelschreie zu brachial, die Gesichter zu angespannt. Wenn sich Deutsche freuen, explodieren Kühlschränke. Niclas Füllkrug jubelt einfach gar nicht. Danke, Fülle. Wie du bist, sollte Deutschland werden.

Füllkrug wirkte nach dem 1:1 gegen Spanien wie ein Grundschüler, der den Bus verpasst hat. Vielleicht jubelte er innen, man weiß es nicht. War ihm das Tor peinlich? Nach dem Spiel sagte er den wunderbar programmatischen Satz: »Wir müssen jetzt nicht durchdrehen.« Man könnte das über die ganze WM plakatieren.

Die besten Interviews mit Fußballern entstehen sowieso wenige Sekunden nach dem Schlusspfiff. Wenn die Gladiatoren nach dem Fight um ihr Leben ein Mikrofon ins Gesicht geschoben bekommen. Verschwitzte Boys aus deiner Umgebung. Goretzka ließ die Schultern hängen, Kimmich hatte das Spiel, das er mitgespielt hatte, offenbar komplett vergessen. Vielleicht war er gedanklich schon daheim auf dem Sofa. Der Einzige, der erholt wirkte, war Thomas Müller, der fröhlich plauderte, bis ihm plötzlich die Niederlage gegen Japan wieder einfiel und er seufzte: »Wir hatten uns das alles ganz anders vorgestellt.« Was Neuer gesagt hat, habe ich vergessen.

Füllkrug hat uns ein paar Minuten Erholung von dieser absurden WM verschafft, von der korrupten Fifa, dem Turnier in der Wüste. Vielleicht überstehen wir die Vorrunde, vielleicht nicht. Ein Unentschieden ist der Sieg des kleinen Mannes. Der erste Advent ist ein Mini-Weihnachten gewesen. Fülle Nacht, heilige Nacht. Wir drehen nicht durch.

Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Muss Deutschland der Ukraine mit Gas aushelfen, Frau Sabadus? Russland greift gezielt die Stromindustrie in Kiew und anderen Orten an. Hier erklärt Analystin Aura Sabadus, ob das Land bald Hilfslieferungen braucht – und was Gazprom alles über den ukrainischen Energiesektor weiß .

  • Russische Städte stellen Wegweiser zu Schutzkellern auf: Wladimir Putin überzieht die Ukraine mit Raketen. Es landen aber auch immer wieder Geschosse in Russland. In grenznahen Städten weisen nun Schilder den Weg zum nächsten Schutzkeller. Aber nicht nur dort.

  • Selenskyj schwört auf harten Winter ein, Klitschko wehrt sich gegen Kritik: Präsident Selenskyj sieht die Ukraine vor schweren Monaten – mit Kälte und Beschuss. Kiews Bürgermeister will sich nicht kritisieren lassen.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Klingbeil ruft Industrie zu schnellerer Rüstungsproduktion auf: Die Bundeswehr leidet an Ausrüstungs- und Munitionsmangel – trotz 100 Milliarden Euro Sondervermögen. SPD-Generalsekretär Klingbeil macht der Industrie Vorwürfe. Die Opposition attackiert Verteidigungsministerin Lambrecht.

  • Bahngewerkschaft stellt raschen Start des 49-Euro-Tickets infrage: Am Deutschlandticket entzündet sich Kritik: Bevor es losgeht, müsse der Bund neue finanzielle Zusagen machen, fordern Arbeitnehmervertreter. Die Bahn wiederum sieht Probleme für den Fall, dass das Ticket zum Erfolg wird.

  • Meta muss 265 Millionen Euro Strafe zahlen: Weil Daten von einer halben Milliarde Facebook-Nutzer abgeflossen sind, verhängt die irische Datenschutzbehörde eine Millionenstrafe gegen den Mutterkonzern Meta. Der hatte zuvor versucht, den Vorfall kleinzureden.

Meine Lieblingsgeschichte heute: Unbeschriebene Blätter

Die Angst vor dem leeren Blatt Papier - die chinesische Staatsführung lernt sie kennen: Viele Demonstrantinnen und Demonstranten halten sich ein unbeschriebenes Papier vor die Brust oder in die Höhe - als Symbol, wie einer meinem Kollegen Christoph Giesen sagte: »Wenn sie uns nicht erlauben zu reden, werden wir nicht sprechen.«

Die Proteste richten sich gegen die strikte Null-Covid-Politik der Führung in Peking. Am Sonntag demonstrieren Menschen in vielen Städten. "An mehr als 70 Universitäten, haben chinesische Internetnutzer gezählt, sollen Proteste abgehalten worden sein, in Lanzhou oder in Chengdu, aber auch in Wuhan, wo das Coronavirus zuerst grassierte", berichtet Christoph.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Diktatur des Autos: Ob Tempo 30, neue Radspuren oder kinderfreundliche Stadtviertel: Immer wieder scheitern solche Vorhaben am deutschen Straßenverkehrsrecht. Das räumt seit Kaisers Zeiten dem Auto Vorrang ein – wie lange noch? 

  • Ermittlungen gegen hochrangigen Personenschützer der NRW-Polizei: Die Staatsanwaltschaft Wuppertal ermittelt gegen einen Polizisten wegen des Verdachts auf Kindesmissbrauch. Nach SPIEGEL-Informationen arbeitete er für ein Personenschutzkommando der Landesregierung. 

  • Was machen Doubles, wenn man sich für die Originale schämen muss? Wenn Prominente in Verruf geraten, leiden auch Künstler, die als deren Doubles auftreten. Manche haben Angst, instrumentalisiert zu werden. Wie sie versuchen, ihr Geschäftsmodell zu retten. 

Was heute weniger wichtig ist

Sign und Haben: Bob Dylan, 81, hat sich bei seinen Fans dafür entschuldigt, dass er die limitierten, angeblich handsignierten, rund 600 Dollar teuren Exemplare seines Buches »The Philosophy of Modern Song« gar nicht selbst unterschrieben hatte. Wegen drohender Vertragsfristen habe man ihm vorgeschlagen, die Unterschriften von einer Signiermaschine anfertigen zu lassen. Ihm sei versichert worden, dass in der Kunst- und Literaturwelt so etwas »ständig« gemacht werde. Das sei eine Fehleinschätzung gewesen. Der Literaturnobelpreisträger versprach, den Fehler zusammen mit seinem Verlag »Simon & Schuster« zu »korrigieren«.

Tippfehler des Tages, »So werden umgangssprachlich 4G-Funkllöcher genannt«

Cartoon des Tages: Xi Jingpings Versuch, weitere Proteste zu verhindern...

Xi Jingpins Versuch

Illustration: Klaus Stuttmann

Und heute Abend?

Könnten Sie einer Empfehlung meines Kollegen Christian Buß folgen und die Serie »The English« mit Emily Blunt beim Streamingdienst Magenta TV anfangen zu gucken. Christian sieht sie als eine Gewaltoper, einen Siedlerepos, ein postkoloniales Melodram: Der Sechsteiler »über die Freundschaft einer Engländerin und eines Pawnee definiert den Western neu. Grimmig, plausibel – und wunderschön«. (Hier die ganze Rezension.)

Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp