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Noch keine Beweise gegen Niemann: Das bizarre Mobbing von Großmeister Carlsen

Hans Niemann steht im Verdacht, den Schach-Weltmeister Magnus Carlsen in einem Duell betrogen zu haben. Das Genie aus Norwegen selbst erhebt den Vorwurf. Die Szene ist in Aufruhr und sammelt Indizien. Was aber fehlt: Beweise. Ein seltsames Schauspiel.

Magnus Carlsen hat sein Schweigen gebrochen. Einen Gefallen hat der Norweger der Schach-Welt damit aber (noch) nicht getan. Denn der Superstar hat am Montagabend nur noch mehr Unruhe gestiftet. Natürlich kann man ihm zugutehalten, dass er endlich gesagt hat, was er seit Wochen seltsam nebulös andeutet, nämlich, dass sein Kontrahent Hans Niemann betrügt. Beweise für seine Anschuldigungen aber liefert Carlsen nicht. Das ist ein Problem. Oder nicht? Die Fehde der beiden Großmeister erreicht seltsame Ausmaße.

Und die Verteilung der Rollen wird immer schwerer zu durchblicken. Dabei scheint die Sache grundsätzlich klar: Carlsen sieht sich als Opfer und Niemann als Täter. Der Norweger mag nicht glauben, dass er beim Sinquefield-Cup Anfang September auf legale Weise besiegt worden war. Wochenlang deutete er an, dass der 19 Jahre alte Amerikaner betrogen habe. Konkret ausgesprochen hatte er das aber nicht. Bis zum Montagabend. Da waren die Folgen des Bebens aber längst nicht mehr aufzuhalten. Der Skandal - er ist einer, egal, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht - hat die gesamte Szene in Aufruhr versetzt. Die Experten stürzten sich leidenschaftlich auf Niemann, während Carlsen dem Treiben entspannt zusehen konnte. Die Rollen waren ja klar verteilt. Von ihm selbst.

Verdächtige Werte bei Niemann

Analyse folgte auf Analyse. Und tatsächlich kamen ein paar Ungereimtheiten zu Tage. Der Großmeister Hikaru Nakamura fand etwa heraus, dass Niemann sich laut eigener Aussage auf bestimmt Züge von Carlsen aus der Vergangenheit vorbereitet hatte, die der Norweger den Datenbanken zufolge aber nie gespielt hatte. Seltsam, aber kein Beweis. Das mahnte auch Nakamura an. Aber immer mehr Experten hinterfragten plötzlich das Spiel von Niemann, der Weltranglisten-Nummer 49. In "normalen Partien" würde er seinem Ranking entsprechend agieren. In extrem wichtigen Duellen spiele er dagegen mit einer unglaublichen Präzision. FIDE-Meisterin Yosha Iglesias hatte am Montag, kurz bevor Carlsen den Betrug via Twitter öffentlich benannt hatte, auf ihrem YouTube-Kanal eine Analyse präsentiert, die für Niemann in der jüngeren Vergangenheit einige sogenannte 100-Prozent-Spiele auswies. Ein Wert, den in dieser Häufigkeit normalerweise nur ein Schach-Computer erreicht.

Der Druck auf Niemann wächst und wächst. Die Art wie er ausgeübt wird, grenzt allerdings an Mobbing. So etwa beim Julius-Bär-Generationen-Cup, als der Norweger nach einem Zug und ohne jeden Kommentar aufgab. Großmeister David Howell staunte und sagte: "Es sind einfach bizarre, bizarre Zeiten."

Carlsen provoziert eine Hexenjagd

Das Verhalten von Carlsen wirft reichlich Fragen auf. Warum versteckt er sich wochenlang hinter nebulösen Andeutungen? Er bemühte sogar ein Zitat von Starcoach José Mourinho. "Ich bevorzuge es, nicht zu reden. Wenn ich etwas sage, bin ich in großen Schwierigkeiten." Nun hat er gesprochen, aber nichts Belastendes geliefert. Die Schach-Welt ist geteilt. Während sich die einen als Fahnder betätigen, prangern die Anderen das seltsame Gehabe des norwegischen Schachgenies an. So etwa Meisterin Jovanka Houska. "Er kann nicht einfach sagen: 'Ich glaube, du hast betrogen' und damit eine Hexenjagd provozieren. Er muss sagen: 'Hier ist mein Beweis'."

Nicht glücklich über die Art von Carlsen war auch der Weltverband. Als oberste Instanz des Sports sei es die Pflicht der FIDE, die Integrität des Spiels und dessen Image zu schützen, heißt es in dem Statement vor wenigen Tagen. Angesichts der Tatsache, dass der aktuelle Vorfall immer weiter eskaliere, sei es nun notwendig, einen "Schritt nach vorne" zu machen. Dabei ging der Verband deutlich auf Konfrontationskurs mit dem Starspieler. "Wir glauben stark daran, dass der Weltmeister eine moralische Verantwortung trägt, weil er als weltweiter Botschafter betrachtet wird", schrieb der Verband. "Seine Handlungen beeinflussen den Ruf seiner Kollegen, ihre sportlichen Ergebnisse und können dem Spiel am Ende Schaden zufügen." Bei der FIDE sei man "fest davon überzeugt, dass es bessere Wege gegeben hätte, mit dieser Situation umzugehen". So sehr Carlsens Hinhaltetaktik den Weltverband auch stört, so sehr ist er laut eigener Aussage daran interessiert, Betrüger zu finden und zu bestrafen. Man teile Carlsens Sorgen, was die Folgen von Betrügereien für den Sport angehe.

Elon Musk gefällt die Analkugel-Theorie

Während die Welt weiter auf den Beweis wartet, diskutiert sie alle denkbaren Szenarien des Betrugs. Die reichen von einem "Mann im Ohr" bis zu vibrierenden Analkugeln. Diese Theorie brachte Großmeister Eric Hansen ins Spiel. Und wie absurd sich die Dinge drehen: Sogar Multimilliardär Elon Musk hat seinen Gefallen an dem Wahnsinn gefunden. Zum Anal-Verdacht twitterte er: "Das Talent trifft ein Ziel, das kein anderer trifft; das Genie trifft ein Ziel, das kein anderer sieht (weil es in deinem Hintern steckt)."

Wie schwer es ist, Betrug aufzudecken, hat Deutschlands jüngster Schach-Großmeister, Vincent Keymer, der "Sportschau" erklärt. Bei Amateuren sei das noch recht einfach herauszufinden. Aber: "Wenn ein Top-Spieler eine besonders gute Partie spielt, weiß man das nicht genau. Sehr gute Spieler können nun auch mal sehr starke Partien spielen", erklärte der 17-Jährige.

Während es bei Online-Turnieren einfacher sei, trotz aller Möglichkeiten der Veranstalter mit vorgegebenen Kamera-Positionen und zufällig ausgewählten Raum-, Ohren- oder sonstigen Scans zu "cheaten", sei es bei direkten Duellen extrem schwierig. "Bei der Schach-Olympiade war es so, dass es Metalldetektoren gab. Oft gibt es sogar Scanner, die Funkwellen erkennen. Es wird schon einiges getan, um Betrug zu verhindern", erklärte er und fügte an: "Das Problem ist recht groß, weil die Engines so viel stärker sind als die Menschen."

Niemann nicht mal voll konzentiert?

Niemanns Fortschritte, so erklärte Carlsen am Montag, seien "ungewöhnlich". Bei einem der jüngsten Duelle habe er den Eindruck gehabt, der junge Amerikaner sei "nicht angespannt und noch nicht einmal voll konzentriert auf das Spiel in kritischen Positionen" gewesen, "während er mich mit Schwarz auf eine Weise ausgespielt hatte, wie es meiner Meinung nach nur eine Handvoll Spieler können."

Und dann setzte Carlsen seinen Feldzug gegen den 19-Jährigen vor und betonte, dass er nicht mehr "gegen Leute spielen, die in der Vergangenheit wiederholt betrogen haben, weil ich nicht weiß, wozu sie in Zukunft in der Lage sind". Mehr könne er im Moment nicht sagen, "ich hoffe aber, dass die Wahrheit in dieser Sache herauskommt, was immer sie sein mag".

Und tatsächlich hatte Niemann in der Vergangenheit schon betrogen. Er hat selbst zugegeben, im Alter von 16 Jahren bei virtuellen Turnieren zweimal nicht fair gewonnen zu haben. Er bereue das heute zutiefst, versicherte er, und schäme sich dafür. Er sei nun bereit, komplett nackt zu spielen, um zu beweisen, dass er keine Hilfsmittel nutze: "Ich weiß, dass ich sauber bin."