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Pläne für den Herbst: So rüstet die EU im globalen Handelsstreit auf

Globalisierung war gestern, das neue Mantra der europäischen Handelspolitik lautet (offene) strategische Autonomie. Welche Instrumente sich die EU für das rauer werdende internationale Umfeld gibt und welche Partner sie über Abkommen an sich binden will

Dieser Artikel liegt Capital.de im Zuge einer Kooperation mit dem Europe.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Europe.Table am 27. September 2022.

Die EU hat in den vergangenen Jahren in der Handelspolitik deutlich aufgerüstet. Ganz neu im Arsenal: ein Instrument gegen wettbewerbsverzerrende Subventionen, das vor allem auf chinesische Staatsunternehmen zielt; und das Instrument für das internationale Beschaffungswesen (IPI), mit dessen Hilfe die EU öffentliche Ausschreibungen in anderen Ländern für europäische Firmen öffnen will. Beide Verordnungen haben Europaparlament und Mitgliedstaaten vor der Sommerpause verabschiedet.

Noch offen sind zwei Legislativvorschläge der EU-Kommission: das Anti-Coercion-Instrument, das die Mitgliedstaaten gegen handelspolitische Zwangsmaßnahmen anderer Regierungen schützen soll, und das gerade erst vorgestellte Importverbot von Produkten aus Zwangsarbeit. Anfang Dezember soll der zuständige Vizepräsident Valdis Dombrovskis überdies noch eine Reform des Zollwesens vorlegen. Über den Stand beim geplanten EU-Lieferkettengesetz und das Rohstoffpaket hatten wir Sie bereits in unserem Ausblick zur Nachhaltigkeitsagenda informiert.

Parallel dazu verhandelt die Kommission eine Reihe von Freihandelsabkommen mit Drittstaaten, mit unterschiedlichem Reifegrad. Russlands Angriff auf die Ukraine hat das Bewusstsein für politisch gefährliche Abhängigkeiten geschärft und der Handelspolitik damit neuen Rückenwind gebracht, wie die Generaldirektorin für Handel, Sabine Weyand, feststellte. Die EU will sich breiter aufstellen, und insbesondere die Beziehungen zu politisch nahestehenden Staaten stärken.

Aber der Reihe nach:

Anti-Coercion Instrument

Mit dem neuen Instrument will sich die EU besser wehren können, wenn Drittstaaten einzelne Länder wirtschaftlich unter Druck setzen. Musterbeispiel ist das Vorgehen Chinas gegen Litauen, als Peking ein De-Facto-Handelsembargo gegen das baltische Land verhängte, nachdem Taiwan eine diplomatische Vertretung in Vilnius eröffnen durfte.

In solchen Fällen soll die EU künftig als Ganzes antworten können, etwa über Einfuhrbeschränkungen oder Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen. Die EU-Kommission würde nach ihrem Vorschlag vom vergangenen Dezember eine starke Stellung erhalten: Sie könnte selbst eine Untersuchung einleiten, über die Gegenmaßnahmen würde im Komitologie-Verfahren entschieden.

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Im Europaparlament hat Berichterstatter Bernd Lange (SPD) gerade anhand der Änderungsanträge ein Kompromisspaket geschnürt. Es sieht etwa vor, dass angedrohte Zwangsmaßnahmen bereits Gegenmaßnahmen auslösen können, und setzt Fristen für die Verfahren. Am 10. Oktober soll der Handelsausschuss über den Bericht abstimmen, in der darauffolgenden Woche das Plenum die Parlamentsposition bestätigen, voraussichtlich ohne erneutes Votum.

Im Rat verhandeln die Mitgliedstaaten noch. Dort wird vor allem diskutiert, nach welchem Verfahren über Gegenmaßnahmen entschieden wird. Deutschland und andere Staaten pochten auf ein stärkeres Mitsprachrecht, heißt es in EU-Kreisen. Konkret geht es darum, welche Mehrheiten die Kommission im Rat braucht, um Gegenmaßnahmen anordnen zu können. Eine Einigung ist aber nicht mehr allzu fern. Die Trilog-Verhandlungen dürften daher noch unter tschechischer Ratspräsidentschaft beginnen.

Verbot von Produkten aus Zwangsarbeit

Dombrovskis hatte den Legislativvorschlag Mitte September vorgelegt – exakt ein Jahr, nachdem Ursula von der Leyen ihn bei ihrer Lage zur Rede der EU 2021 angekündigt hatte. Mit Zwangsarbeit hergestellte Produkte sollen demnach vom Binnenmarkt verbannt werden. Ein belegbarer Verdacht reicht, um ein Produkt vom heimischen Markt zu nehmen sowie die Ein- und Ausfuhr verbieten zu können. Verantwortlich dafür sind laut dem Vorschlag die nationalen Zoll- oder Marktaufsichtsbehörden.

Der Legislativvorschlag fußt auf zwei Rechtsgrundlagen: Artikel 114 (Binnenmarkt) und Artikel 207 (Handelspolitik) des Vertrages zur Arbeitsweise der EU. Entsprechend dürfte es im Europaparlament eine geteilte Zuständigkeit geben: Der Binnenmarktausschuss (IMCO) dürfte die Federführung für die Teile erhalten, die das Inverkehrbringen auf dem gemeinsamen Markt betreffen, der Handelsausschuss (INTA) für die Maßnahmen an der Außengrenze. Noch ist aber nichts geklärt.

Neue Handelsabkommen

In ihrer Rede zur Lage der EU kündigte von der Leyen an, die Abkommen mit Chile, Mexiko und Neuseeland in den kommenden Monaten Rat und Europaparlament zur Ratifizierung vorlegen zu wollen. Mit anderen Partnern wie Australien und Indien wolle die Kommission die Verhandlungen vorantreiben. Generaldirektorin Weyand hofft zudem darauf, neue Dynamik in die Verhandlungen mit den Mercosur-Staaten zu bekommen.

Chile: Die EU hatte das weitgehend ausverhandelte Update des Assoziierungsabkommens aus dem Jahr 2002 auf Drängen Frankreichs Ende vergangenen Jahres zunächst zurückgestellt. Die Wahlen dort sind inzwischen vorbei. Zuletzt sorgte aber das gescheiterte Verfassungsreferendum in Chile für politische Turbulenzen in dem lateinamerikanischen Land und damit für neue Unsicherheiten. Chile ist als Handelspartner interessant, weil es politisch der EU nahesteht und als Lieferant von Lithium und Kupfer gebraucht wird, die für den Umbau der hiesigen Wirtschaft nötig sind.

Mexiko: Beide Seiten haben sich schon vor Längerem im Grundsatz verständigt, das Assoziierungsabkommen aus dem Jahr 2000 zu modernisieren und damit fast alle Zölle auf Güter abzuschaffen. Die Kommission arbeitet derzeit daran, den Handelsteil des Abkommens von den politischen Vereinbarungen abzutrennen, um die Ratifizierung zu beschleunigen. Dagegen gibt es aber Bedenken in der mexikanischen Regierung.

Neuseeland: Die EU-Kommission und die Regierung in Wellington hatten Ende Juni verkündet, sich im Grundsatz auf ein Freihandelsabkommen geeinigt zu haben. Der ausgehandelte Vertrag muss nun noch juristisch feingeschliffen und in die EU-Amtssprachen übersetzt werden. Danach wird er Rat und Europaparlament zur Unterzeichnung und Ratifizierung vorgelegt. Allzu großer Widerstand ist nicht zu erwarten, auch wegen des ambitionierten Nachhaltigkeitskapitels.

Hoffen auf Lula

Australien: Die Verhandlungen mit dem Nachbarn Australien gestalten sich schwieriger – viele sensible Punkte seien noch offen, heißt es in Brüssel. Die Kommission hofft auf eine politische Einigung mit Canberra bis Frühjahr 2023. Mit der neuen sozialdemokratischen Regierung dort werde vieles leichter, sagt Bernd Lange: „Sie akzeptiert, dass Handelspolitik auch zur Reduzierung der CO2-Emissionen dienen muss.“

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Mercosur: Viel hängt vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen in Brasilien am 2. Oktober ab: Bernd Lange und andere EU-Handelspolitiker versprechen sich neue Dynamik für das 2019 politisch vereinbarte Abkommen, sollte der frühere Präsident Luiz Inácio Lula da Silva gegen Amtsinhaber Jair Bolsonaro gewinnen. Letzterer ist wegen seines mangelnden Interesses am Schutz des Regenwaldes hierzulande kaum vermittelbar.

Mit Lula, so hoffen die Europäer, ließen sich verbliebene Fragen in einer Zusatzerklärung aus der Welt räumen, die das Handelsabkommen bei der Durchsetzung der Zusagen zum Schutz des Amazonasgebiets aus Sicht der Kritiker offenlässt. Allerdings hat der linksgerichtete Kandidat schon Bedarf für Nachverhandlungen angemeldet, um Brasilien als Industriestandort zu stärken. Die EU-Kommission lehnt das strikt ab, weil sie darin ein Einfallstor für weitere Begehren sieht.

Indien: Von der Leyen hofft darauf, ein Abkommen vor Ende ihrer Amtszeit Mitte 2024 schließen zu können. Doch das ist ambitioniert: Delhi scheint weiterhin kaum bereit, seinen Markt für die Europäer zu öffnen. Die erste Verhandlungsrunde Ende Juni habe wenig Bewegung gebracht, heißt es in EU-Kreisen. Die Frage ist nun, wie weit Kommission und Mitgliedsstaaten auf Premier Modi zugehen wollen, um diesen im Konflikt mit Russland und den Spannungen mit China auf ihre Seite zu ziehen.

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