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Rede auf Festakt in Goslar: Merkel schreibt weiter Geschichte

Altkanzlerin Merkel tritt als Festrednerin beim Stadtjubiläum von Goslar auf. Dort wirbt sie für eine Russland-Politik, die sie selbst einst verfolgt hat, und macht dem Publikum Mut: Mit ausreichend Kraft und Zuversicht könne auch diese Krise überwunden werden.

Hoher Besuch in Goslar: Die Stadt am Harz feiert in diesem Jahr ihr 1100-jähriges Bestehen. Zur zentralen Jubiläumsfeier in der ehemaligen Kaiserpfalz hat Goslar Angela Merkel eingeladen. Seit die Ampel regiert, ist es ruhig geworden um die Bundeskanzlerin a.D. Auf 16 Jahre Polit-Dauerdienst folgten zunächst Urlaubsreisen, im Sommer nahm Merkel dann erstmals wieder öffentliche Auftritte wahr. Zu den Annehmlichkeiten des Ruhestands gehöre es, Termine selbst herauspicken zu können, erzählte sie in einem Interview. Diese sind für gewöhnlich rar gesät, doch erst am Dienstagabend ehrte sie ihren Vor-Vorgänger Helmut Kohl auf dem Gründungstreffen der gleichnamigen Stiftung. Zwei Tage später geht es weiter nach Goslar.

Dort wird seit Jahresanfang ein regelrechter Veranstaltungsmarathon abgehalten. Unter dem Motto "Wo Kaiser ihr Herz verlieren" feiert die niedersächsische Stadt sich und ihre Vergangenheit. In der Kaiserpfalz, die auf einer Erhöhung am Rand der Innenstadt thront, residierte und disputierte im 11. Jahrhundert der mittelalterliche Hochadel. 1992 adelte die UNESCO das Bauwerk mit dem Welterbe-Status.

Die in Sonntagskleidung gekommenen Bürgerinnen und Bürger freuen sich auf norddeutsche Art auf Merkels Auftritt. Beim Einlass sagt ein Herr im Anzug, es sei eine Ehre, dass Merkel die Stadt besuche. Seine Frau relativiert: "Vor allem geht es uns aber darum, Goslar zu feiern." Hohe Ansprüche an ihre Rede stellt auch ihr Mann nicht: "Sie ist ja nicht mehr Kanzlerin. Was soll sie schon sagen?" Interesse an Merkels Auftritt scheint es in Goslar trotzdem ausreichend zu geben. Neben den Ehrengästen hatte die Stadt 420 Plätze für ihre Einwohner bereitgestellt, die nach knapp zwei Tagen vergriffen waren. Einige, die keine Karte ergattern konnten, sammeln sich in einer Traube an der Auffahrt zur Kaiserpfalz, um vielleicht doch noch einen Blick auf Merkel zu erhaschen.

Standing Ovations für die Ex-Kanzlerin

Wenig später ist der Kaisersaal prall gefüllt, von den meterhohen Wandgemälden wachen Abbilder der Hohenzollern über das Publikum, das klönt und Hände schüttelt - man kennt sich. Der wohl bekannteste Sohn Goslars, Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel, ist unter den Ehrengästen in der vordersten Reihe, neben ihm der indonesische Botschafter. Als Merkel den Saal betritt, erheben sich die Anwesenden, Standing Ovations, SPD-Oberbürgermeisterin Urte Schwerdtner begleitet sie zum Platz. Merkel wirkt gelöst, plauscht immer wieder mit ihrer Sitznachbarin Birgit Honé, der niedersächsischen Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, ebenfalls SPD. Ein Wohlfühltermin.

Sichtbar schwer fällt ihr allerdings der Treppengang auf die Bühne, sie habe mit einer "abklingenden Knieverletzung" zu kämpfen, sagt sie und hält ihre Rede darum sitzend. Es sei bereits ihr fünfter Besuch in Goslar, zuletzt besichtigte sie 2019 mit ihrem früherem Stellvertreter Gabriel die Stadt, deren "historische Schönheit" sie beeindrucke. "Nicht nur Kaiser verlieren ihr Herz hier", spielt Merkel auf den Jubiläums-Slogan an und erntet Lacher. Die 68-Jährige würdigt das historische Vermächtnis Goslars, hebt zudem das politische Engagement auf kommunaler Ebene hervor, das mit den "Herausforderungen" dieser Zeit zu kämpfen habe. So schwenkt Merkel vom Kleinen um ins Große, erinnert an die Leistungen der kürzlich verstorbenen Queen Elizabeth II. und Michail Gorbatschow. Mit ihrem Tod sei "das 20. Jahrhundert politisch endgültig beendet". In dieser Rechnung wäre die von 2005 bis 2021 amtierende Altkanzlerin ebenfalls im langen 20. Jahrhundert politisch aktiv gewesen.

Langer Atem, lange Linien

Dann kommt Merkel auf den Ukraine-Krieg zu sprechen, der eine "tiefgreifende Zäsur" darstelle. Russland habe eigentlich schon seit der Annexion der Krim, spätestens aber seit dem 24. Februar eine Verletzung völkerrechtlicher Prinzipien begangen, wie es sie seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa nicht gegeben habe. Doch auch wenn es "eines langen Atems bedarf", müsse weiter "an einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur unter Beteiligung Russlands" gearbeitet werden. Sie wiederholt damit eine Position, die sie bereits zwei Tage zuvor formuliert hatte.

Merkel sagt, sie wolle sich nicht in politische Debatten einmischen. Ihr geht es erkennbar mehr um die langen Linien der Geschichte - ihrer eigenen Geschichte, an der sie mit ihren Auftritten schreibt. Denn die Russland-Politik, für die sie wirbt, ist ja eine, die sie selbst verfolgt hat - mit einem Ergebnis, das heute sehr viel kritischer gesehen wird als zu ihrer Regierungszeit. Deutschland habe derzeit "keinen Grund zur Selbstzufriedenheit", sagt Merkel dann noch. Mit ausreichend Kraft und Zuversicht jedoch könne auch diese Krise überwunden werden. Das Publikum bedenkt ihre Rede mit frenetischem Beifall. Merkels eigene Verantwortung für die aktuelle Situation ist hier kein Thema.

Nina Hagen auch in Goslar

Auf Merkels ernste Töne folgen seichtere, ein Jazz-Ensemble stimmt schon wieder "Du hast den Farbfilm vergessen" von Nina Hagen an. Hatte die entsprechende Songauswahl bei ihrem Großen Zapfenstreich noch für allgemeine Verwunderung gesorgt, ist nun niemand mehr überrascht, und so kommt auch das Publikum auf der westlichen Seite der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze in den Genuss kurzweiliger DDR-Nostalgie.

Zum Abschluss Formalitäten, Oberbürgermeisterin Schwerdtner bedankt sich für den "Höhepunkt unseres Stadtjubiläums". Die Band gibt das "Steigerlied" zum Besten, Merkel lauscht, spendet den Solisten Szenenapplaus. Für ihr Ausbleiben beim anschließenden Empfang hatte sie sich zuvor entschuldigt - das Knie. Nochmal Ovationen, dann verlässt Merkel den Saal durch den Nebeneingang. Draußen harren noch eine Handvoll Schaulustige aus, hoffen auf einen letzten Blick auf die Ex-Kanzlerin. Wenn sie schonmal da ist.