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Russisch besetztes Berdjansk: "Wer weiß, was sie nach diesem Referendum machen"

Die 57-jährige Olena hat ihre Tochter Tetyana seit Monaten nicht gesehen - zwischen ihnen liegt die Front. Tetyana lebt in der Region Saporischschja, wo Russland eines der Annexionsreferenden inszeniert hat.

Der Krieg hat nicht nur Paare auseinandergerissen, auch Mütter und Kinder. In normalen Zeiten trennt die ukrainische Hafenstadt Berdjansk und die Industriemetropole Krywyj Rih nur eine mehrstündige Autofahrt. Jetzt liegt die Front dazwischen.

In einem Dorf bei Krywyj Rih lebt die 57-jährige Olena - ihre Tochter Tetyana wohnt seit einigen Jahren mit ihrem Mann bei ihren Schwiegereltern in der Gegend von Berdjansk. Das Gebiet am Asowschen Meer ist russisch besetzt, es gehört zur Oblast Saporischschja - einer der Regionen also, die Russland in diesen Tagen annektiert. Für Tetyana kam eine Flucht aus Berdjansk dennoch nicht infrage: Die Eltern ihres Mannes sind alt, er wollte sie nicht alleine lassen, und sie wollte ihren Mann nicht verlassen.

"Meine Tochter arbeitet in einer Schulkantine in einem Dorf nahe Berdjansk", erzählt Olena in einem Telefonat mit ntv.de. "Zu Beginn des Kriegs begannen die Menschen im Dorf zu streiken. Dann versammelte das russische Militär das gesamte Schulpersonal und sagte, dass sie ernsthafte Maßnahmen ergreifen würden, wenn der Streik nicht aufhört. Sie drohten damit, die Kinder nach Russland zu verschleppen und die Männer nach Mariupol zu schicken, um die Stadt wiederaufzubauen."

Seit Beginn der russischen Invasion hat Olena Tetyana nicht mehr gesehen. "Früher hat mich meine Tochter zweimal pro Jahr mit ihrem Mann und meiner Enkelin besucht: Im Winter an Silvester und im Sommer haben sie hier Urlaub gemacht. Wir haben die Feiertage gemeinsam verbracht und sie halfen mit bei der Hausarbeit. Meine Enkelin blieb den ganzen Sommer bei uns im Dorf." Nun können sie nicht einmal mehr regelmäßig telefonieren. "Vor zwei Tagen habe ich zuletzt mit Tetyana gesprochen. Davor konnte ich sie lange nicht erreichen - ich glaube, die Russen haben die Verbindung gestört, als Saporischschja beschossen wurde."

"Die Leute fragen nicht nach, sie haben Angst"

"Wir telefonieren nur über das Internet, anders geht es auch gar nicht. Ukrainische SIM-Karten funktionieren im russisch besetzten Gebiet nicht, weil die ukrainischen Kommunikationsleitungen zerstört wurden. Man kann russische SIM-Karten kaufen, aber es wäre sehr teuer, von einer russischen Nummer aus eine ukrainische Nummer anzurufen", seufzt Olena.

Berdjansk steht fast seit den ersten Tagen des Kriegs unter Besatzung. In der Stadt gibt es kein Gas, in einigen Gebieten weder Strom noch Wasser. Die Situation in der Stadt ist nicht stabil. Zu Beginn des Krieges konnte man dort hören, wie Mariupol in der Nähe bombardiert wurde, auch die Einwohner von Berdjansk saßen in den Bunkern.

"Da meine Tochter nicht in Berdjansk lebt, sondern in einem Dorf in der Nähe, ist es bei ihr jetzt ruhig", erzählt Olena. "Manchmal fahren feindliche Fahrzeuge durch das Dorf, aber nur selten." In Berdjansk sind alle Geldautomaten auf die russische Währung umgestellt worden. Mit ukrainischen Geldkarten kann man dort nicht mehr abheben, in Geschäften bezahlen aber schon, hat Tetyana ihrer Mutter erzählt. "Die Gehälter werden in bar in Rubel ausgezahlt. Wer diese Gehälter zahlt, ist nicht bekannt. Aber die Leute fragen nicht nach, denn sie haben große Angst. Ich sage meiner Tochter, dass sie mit niemandem über irgendwas sprechen soll, denn wer weiß schon, wer über was nachdenkt." Mit "irgendwas" meint Olena Politik oder den Krieg.

Ja und Nein, aus Angst

Auch "an diesem Referendum", der Scheinabstimmung, mit der Russland die Annexion der vier ukrainischen Regionen inszeniert, musste ihre Tochter teilnehmen. "Frauen aus dem Dorf gingen zusammen mit russischen Polizisten von Haus zu Haus und führten die Abstimmung durch", habe Tetyana ihr erzählt, sagt Olena. Die Frage lautete: Befürworten Sie die Wiedervereinigung Saporischschja mit Russland oder nicht? "Ich habe meine Tochter gefragt, was sie geantwortet hat. Sie sagt, sie habe zwei Kreuze gesetzt, dafür und dagegen." Tetyana hatte Angst, mit Nein zu stimmen, wollte aber auch nicht Ja ankreuzen. Unter regulären Bedingungen wäre ihre Stimme damit ungültig. Ärger bekam sie nicht: Niemand sah sich den Wahlzettel an. Am Wahlergebnis dürfte es ohnehin nichts geändert haben: Anders als in der Region Donezk gab es in Saporischschja zwar nicht fast 100 Prozent Zustimmung, sondern "nur" 93 Prozent. Aber allen ist klar, dass das Ergebnis mit der Abstimmung nichts zu tun hat.

"Natürlich bin ich sehr besorgt", sagt Olena. "Ich möchte, dass unsere Gebiete so schnell wie möglich befreit werden und dass alles wieder so ist wie früher. Aber wir alle verstehen, dass es schwierig ist. Ich mache mir Sorgen, dass sie russische Pässe erhalten werden. Bislang gibt es keine derartigen Vorschläge, aber wer weiß, was sie nach diesem Referendum machen."