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Russland untergräbt Westkurs: Georgien? Putins "Pfand" sind Separatisten und Flugzeuge

Russland untergräbt Westkurs Georgien? Putins "Pfand" sind Separatisten und Flugzeuge

Georgien versucht seit Jahren, in die EU und NATO zu kommen. Die meisten Menschen im Land sind pro-westlich eingestellt, doch ausgerechnet hier ist Russland momentan dabei, seinen Einfluss 15 Jahre nach dem Kaukasuskrieg wieder aufzubauen. Direktflüge sind der erste Schritt.

In der Nähe eines Hotels an einem See in Georgien eskalieren Mitte Mai Proteste. Aktivisten und Anhänger der georgischen Opposition haben sich am Kwareli Lake Resort versammelt. Sie demonstrieren dagegen, dass die Tochter von Sergej Lawrow, dem russischen Außenminister, ungestört in Georgien Urlaub machen kann. Zu dem Zeitpunkt befindet sich Ekaterina Lawrowa in dem 4-Sterne-Hotel im Osten des Landes, etwa 15 Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Ihr Schwager will am See seine Hochzeit feiern.

Doch dazu kommt es nicht. Aktivisten und Oppositionelle bekommen Wind von der geplanten Feier, protestierten vor der Hotelanlage. Die georgische Polizei rückt mit "mehreren hundert Einsatzkräften" an, schreibt die russische Nachrichtenseite "Nowaja Gaseta". Lawrowa und ihre Begleiter werden von georgischen Sicherheitskräften aus dem Hotel gebracht, fliegen stattdessen nach Saudi-Arabien.

Das Brisante: Die Lawrow-Tochter war Passagierin auf dem ersten Linienflug von Russland nach Georgien seit vier Jahren. Kreml-Chef Wladimir Putin hatte Mitte Mai das Direktflug-Verbot und die Visumpflicht für die Südkaukasus-Republik aufgehoben. Damit löste Russlands Präsident in Georgien eine Protestwelle aus. "Georgien ist ein Land, das traditionell über eine sehr starke Westorientierung verfügt. In Umfragen befürworten teils bis zu 85 Prozent der Bevölkerung einen EU-Beitritt", berichtet der Politikwissenschaftler und Risikoanalyst Hannes Meissner, Experte für den Postsowjetraum, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

Separatisten in Abchasien und Südossetien

Früher war alles anders. Georgien war Teil der Sowjetunion, erklärte nach deren Zusammenbruch 1991 seine Unabhängigkeit. Doch das Verhältnis zu Russland verschlechterte sich und eskalierte 2008. Es kam zum Krieg zwischen Georgien und Russland. Hintergrund war der Konflikt um die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien. Russland marschierte unter einem Vorwand in Georgien ein, begründete das mit einem angeblichen Genozid an der lokalen Bevölkerung. Moskaus Soldaten gewannen den Krieg in nur fünf Tagen, sie marschierten bis 40 Kilometer an die Hauptstadt Tiflis heran. Nach dem schnellen Kriegsende erkannte Russland die prorussischen Separatistengebiete als eigenständige Staaten an.

Zwar gehören Abchasien und Südossetien völkerrechtlich nach wie vor zu Georgien, doch Tiflis hat keine Kontrolle mehr über die beiden De-facto-Staaten, die von Russland alimentiert werden. "Das ist eine Politik, die Moskau seit den 1990er Jahren verfolgt. Wenn Länder versuchen, aus dem russischen Hegemonialbereich auszubrechen, werden dort Konflikte geschaffen und diese später instrumentalisiert", beschreibt Experte Meissner.

Weil Abchasien und Südossetien von Russland unterstützt werden, bleiben die Territorialkonflikte auf georgischem Boden unangetastet. "Moskau weiß, dass sich ein Land mit einer solch prekären Sicherheitslage wohl kaum erfolgreich der EU und vor allem der NATO nähern kann", nennt Meissner das russische Kalkül. Auf diesem Weg halte Wladimir Putin eine Art "Pfand" in den Händen, so der Experte weiter.

Dabei wollen die prowestlichen Georgier auch deshalb der EU und NATO beitreten, weil sie fürchten, Russland könnte sich ansonsten eines Tages das ganze Land unter den Nagel reißen. Zumindest auf die Fläche bezogen erscheint das nicht gerade ein waghalsiges Unterfangen zu sein - Georgien hat nur 3,7 Millionen Einwohner, so viele wie Berlin, und ist gerade mal so groß wie Bayern.

Russland testet seine Grenzen aus

Dass Georgien sich kaum allein gegen Russland wehren kann, zeigt nicht nur der Krieg im Jahr 2008. Moskau spielt seine Macht aus, wann immer es will. 1999 wird Georgien vom Kreml als erstes Postsowjetland überhaupt mit einer Visumpflicht belegt, 2006 folgt ein Handelsembargo auf Wein und Mineralwasser. Und 2008 schließlich wird Georgien als erster Sowjetnachfolgestaat von russischen Truppen angegriffen.

Für Russland ist Georgien eine Art Testgebiet, schreibt die Denkfabrik Carnegie. Um zu schauen, wie weit man gehen kann.

Die Antwort lautet: in Georgien anscheinend sehr weit. Das Land ist arm und deshalb wirtschaftlich nach wie vor auf das riesengroße Nachbarland angewiesen.

Und Russland ist gut darin, solche Abhängigkeiten auszunutzen. Das zeigt unter anderem die Rücknahme des Direktflugverbots. Der Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftssektor in Georgien. Und weil Russen besonders gerne in die kleine Kaukasus-Republik reisen, dürfte Georgien vom Ende des Flugchaos profitieren. "Georgien ist für Russen das, was Griechenland für uns Deutsche und Österreicher ist. Ein exotisches Land, eine exotische Küche, tolle Landschaften. Jetzt bekommt Georgien eine neue Bedeutung als Tourismus-Destination, gerade im Zeichen fehlender Alternativen für russische Urlauber", analysiert Meissner im ntv-Podcast.

Brisanter Regierungswechsel 2012

Georgiens Regierungschef Irakli Garibaschwili hat die Entscheidung Putins, das Direktflug-Verbot aufzuheben, begrüßt. Staatspräsidentin Salome Surabischwilli sprach dagegen von einer "weiteren Provokation Russlands".

Das Beispiel zeigt, wie gespalten Georgien ist. Aber wie kann es sein, dass eine eher westlich orientierte Bevölkerung sich von kremlfreundlichen Politikern regieren lässt? Die Wurzeln liegen im Kriegsmonat August 2008. Der fünftägige Schlagabtausch wurde für Russland zur Machtdemonstration und für Georgien zum Desaster.

Georgien lag in den Jahren danach auch wirtschaftlich in Trümmern. Viele Menschen im Land sehnten sich nach einem Neuanfang. 2012 wählten sie die neue Partei "Georgischer Traum", die wirtschaftlichen Aufschwung versprach, aber eher Russland-freundlich eingestellt ist.

"Große Teile der Bevölkerung wollen sich zwar einerseits dem Westen nähern und das Land in die EU integrieren, aber man erkennt durchaus an, dass man wirtschaftlich von Russland abhängig ist", analysiert Postsowjet-Experte Meissner. Die Menschen in Georgien würden am Ende des Tages aber eine Politik begrüßen, die darauf abzielt, "das Land ökonomisch zu stabilisieren". Und dazu zähle eben der Aufbau des Tourismussektors.

"Ab und zu einen Knochen hinwerfen"

Die georgische Regierung versucht sich an einer Schaukelpolitik. Einerseits die Wiederannäherung an Russland, andererseits der Blick gen Westen. "Immer dann, wenn Russlands Versuche der Destabilisierung zu weit gehen, regt sich Widerstand. Dann gehen die Menschen in Georgien auf die Straße. Es gibt eine langjährige Protestkultur", berichtet Meissner.

Gleichzeitig sei man in Georgien aber enttäuscht vom Westen. Die NATO- und EU-Annäherung sind deutlich ins Stocken geraten. Georgien ist lediglich als "potenzielles EU-Beitrittsland" eingestuft. Moldau und die Ukraine dagegen haben voriges Jahr den offiziellen Kandidatenstatus bekommen. Das ärgert viele Georgier, weil sie sich überholt fühlen.

Moskau will die vertrackte Lage für seine Zwecke nutzen. Und hat mit dem "Georgischen Traum" einen mächtigen Hebel. Nächstes Jahr sind wieder Parlamentswahlen in Georgien. Der Kreml hofft unter anderem, dass das Geld der russischen Touristen - dank der Direktflüge - der Regierungspartei hilft, an der Macht zu bleiben. Die Formel geht so: Die Russen lassen Geld im Land, das stärkt den georgischen Tourismussektor und hilft der Wirtschaft. Davon profitiert die Regierung und sie wird wiedergewählt.

"Russland ist bewusst, dass Annäherung an Georgien nur möglich ist, wenn die Partei 'Georgischer Traum' an der Macht bleibt. Dafür muss ihnen ab und zu ein Knochen hingeworfen werden", heißt es in einer Analyse der Denkfabrik Carnegie.

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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