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Russlands unbekannter Kolonialismus

Russlands Präsident Wladimir Putin hat spätestens seit Beginn seines Angriffskrieges auf die Ukraine eine neue Art der Kritik am Westen entdeckt: die am Kolonialismus. Der Westen sei es gewohnt, „auf fremde Kosten“ zu leben, vom „Paradigma des Kolonialismus“ könnten sich westliche Länder bis heute nicht befreien, sagt er.

Wie selbstverständlich zählt der Autokrat Russland nicht zum Westen. In seiner Vorstellung hat das flächenmäßig größte Land der Erde, das im Mittelalter als ein winziges Tributfürstentum der Goldenen Horde (mongolisches Heer, Anm.) begann, nichts mit den alten Kolonialreichen gemein, die ganze Kontinente unter ihre Kontrolle brachten und deren Bevölkerungen und natürliche Ressourcen ausbeuteten. Russland ist für ihn das Opfer, verhasst, weil es sich nicht kolonisieren ließ.

Wenn er dem kollektiven „Westen“ eine fünfhundert Jahre währende Kolonialgeschichte zum Vorwurf macht, verkennt Putin aber etwas Entscheidendes: Russland ist in Wirklichkeit Teil dieses Westens, nur eine Kolonialmacht unter vielen.

Die Besonderheit der russischen Kolonialgeschichte ist, dass die Eroberungen nicht in Übersee lagen, sondern auf der eurasischen Landmasse. Das seit Ende des 18. Jahrhunderts russisch kontrollierte Territorium in Alaska verkauften die Zaren gar 1867 an die USA.

Über die russische Expansion wird im Land noch seltener gesprochen als über den Stalinismus. Eine jahrhundertelange Geschichte von Gewalt, Ausbeutung und Assimilation wird zu einem quasi naturgewachsenen Miteinander in einem Vielvölkerstaat verklärt. Die Macht Russlands, sagte Putin 2015 in einer Ansprache, bestünde „in der freien Entwicklung aller Völker, in der Vielfalt und Harmonie von Kulturen und Sprachen“.

Die russische Eroberung Sibiriens im 16. und 17. Jahrhundert wird nicht in einer Reihe mit westeuropäischen Kolonialabenteuern gesehen. Dabei fanden die Russen in Sibirien wie die Briten und Franzosen in Amerika oder Afrika keineswegs ein leeres Land vor, sondern lokale Staatswesen und Völker von den sibirischen Tataren bis zu den Jakuten, die sich der russischen Expansion am Ende erfolglos widersetzen. Viele dieser Völker wurden beinahe ausgerottet. Heute lebt Russlands zum großen Teil vom Export von Öl und Gas, Vorkommen, die im 20. Jahrhundert in Sibirien entdeckt wurden, auf gestohlenem Land.

Völkermord an den Tscherkessen

Auch den Kaukasus unterwarf Moskau über Jahrzehnte im Konflikt mit dem Osmanischen Reich und dem Iran. Vor allem der heute zu Russland gehörende Nordkaukasus und die Schwarzmeerküste um Sotschi wurde brutal russifiziert, hunderttausende Tscherkessen und Angehörige anderer Kaukasus-Völker wurden ins Osmanische Reich deportiert, viele starben dabei.

An den Völkermord an den Tscherkessen 1864 erinnert in Deutschland immer wieder der Grünen-Politiker Cem Özdemir, der aus einer tscherkessischen Familie stammt. Auch der Süden des heutigen Russlands und Teile der heutigen Ostukraine wurden kolonisiert.

Dieses Bild zeigt ein Ehepaar in einer traditionen Tracht der Tscherkessen im Kaukasus

Dieses Bild zeigt ein Ehepaar in einer traditionen Tracht der Tscherkessen im Kaukasus

Quelle: picture alliance / ChezOC/Shotshop

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Zarenreich wie selbstverständlich Mitglied des Internationalen Kolonialinstituts in Brüssel. Es war ganz offen von einer „Kolonialbewegung“ die Rede, die russische und ukrainische Bauern nach Zentralasien umsiedelte. Die Region wurde gegen den gewaltsamen Widerstand lokaler muslimischer Staatswesen nach und nach von Moskau erobert. Dort sollten slawische Siedler auf dem Land, das kasachischen und kirgisischen Nomaden weggenommen wurde, auf europäische Art Landwirtschaft betreiben.

Und die Sowjetmacht verfuhr später nicht anders. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine nach dem Ende der Zarenherrschaft 1917 wurden brutal unterdrückt, die Ukraine geriet schnell wieder unter Moskaus Kontrolle. Das nach der Russischen Revolution unabhängig gewordene Georgien wurde 1921 von den Bolschewiken erobert, Armenien verlor im Jahr zuvor seine Unabhängigkeit.

Georgien erklärte 1918 seine Unabhängigkeit

Georgien erklärte 1918 seine Unabhängigkeit

Quelle: picture-alliance / akg-images

In Zentralasien wurden zwischenzeitlich unabhängig gewordene Staatswesen wie die Kokand-Autonomie oder das Emirat Buchara in den 1920er-Jahren mit einer militärischen Kampagne unter sowjetische Kontrolle gebracht, die letzten sowjetischen Strafexpeditionen endeten 1931.

Die nach dem Untergang des Zarenreichs unabhängig gewordenen baltischen Staaten wurden 1940 von Moskau erobert, zehntausende Esten, Letten und Litauer wurden deportiert, die Länder selbst zwangsrussifiziert, dank immenser Bevölkerungsverschiebungen aus Russland und anderen Teilrepubliken.

Geopolitische Konkurrenz mit den USA

Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn Putin und andere russische Regimefiguren sich regelmäßig für das Selbstbestimmungsrecht der Völker aussprechen – das noch nie für Völker galt, auf deren Staats- oder Siedlungsgebiet die Herrscher Russlands ein Auge geworfen hatten. Dass die Sowjetunion später antikoloniale Bewegungen etwa in Vietnam oder Mosambik unterstützte, kann diese Geschichte kaum vergessen machen.

Der UdSSR ging es weniger um das Los der Völker der Welt, sondern um geopolitische Konkurrenz mit den USA und seinen Verbündeten. Auch deswegen ist der Hinweis auf den westlichen Kolonialismus im Falle Russlands keine besonders überzeugende Argumentationsfigur.

Trotzdem versucht Putin nun, sein Land in einer Neuauflage der sowjetischen Propaganda zum Vorkämpfer gegen Kolonialismus zu erklären. Auch im Nachbarland China wird nicht jeder daran glauben.

Trotz der „strategischen Partnerschaft“ mit Russland dürfte Peking nicht vergessen haben, dass große Teile der heutigen russischen Pazifikregion noch vor gerade anderthalb Jahrhunderten chinesisch kontrolliert waren. Erst infolge des Zweiten Opiumkrieges der europäischen Mächte gegen China fielen sie an Russland und wurden massiv russisch besiedelt.