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Sängerin Raye im Interview: "Mein Label ließ mich kein Album herausbringen"

Sieben Jahre lang stand Sängerin Raye bei einem Label unter Vertrag, das ihr trotz Vereinbarung ein eigenes Album verwehrte. Irgendwann hatte die 24-Jährige genug und machte sich selbstständig. Mit "My 21st Century Blues" erscheint nun ihre Debütplatte, in der sie alles verarbeitet, was ihr in den vergangenen Jahren widerfahren ist. Beim Hören wird schnell klar: Raye besitzt das große Talent, aus ihren Schicksalsschlägen etwas Wunderschönes zu zaubern. Im Interview mit ntv.de zeigt sie nicht nur, wie man für sich selbst und seine Rechte einsteht. Die Britin spricht auch über Herzschmerz, ihre neu gewonnene Freiheit und ihre Prioritäten als Künstlerin.

ntv.de: Herzlichen Glückwunsch zu deinem ersten Album! "My 21st Century Blues" ist wirklich etwas ganz Besonderes - die Melodien deiner Songs sind so facettenreich. Hast du die beim Schreiben der Lyrics auch schon gleich im Kopf?

Raye: Es gibt keine genaue Regel dafür. Ich bin nun schon so lange Songwriterin, dass ich mich sicher darin fühle, was ich sagen will. Auch die Melodien sind einfach da und fertig zum Abruf. Ich bin in der Kirche aufgewachsen, dort singst du einfach, was du im Herzen fühlst und lässt es raus. Bei vielen meine Lieder ist es genauso: Ich schreibe etwas, stelle mich vor das Mikrofon, setze die Kopfhörer auf und fange einfach an zu singen. Oder ich finde zuerst eine gute Melodie und dann erst die richtigen Worte dafür. Jeder Song wurde ganz anders geschaffen.

Ähnlich wie auf Beyoncés neuem Album "Renaissance" hast du auch viele Songstrukturen, die man gewöhnt ist, völlig auf den Kopf gestellt. Wo normalerweise ein Vers oder der Refrain kommen würde, baust du ein neues Element ein.

Wow, danke, das ist ein großes Kompliment. Ich glaube, dass Regeln dazu da sind, gebrochen zu werden. Und ich denke, jetzt bin ich an einem Punkt, an dem ich die volle Verantwortung für meine Karriere habe. Ich genieße es, aktiv gegen Pop-Normen zu rebellieren: Ob ein Song 3:20 Minuten lang sein sollte, drei Refrains, oder einen Pre-Refrain, eine Bridge und zwei Verse haben sollte ... Es ist doch langweilig, die ganze Zeit daran festzuhalten.

Was hat sich seit der Veröffentlichung deiner letzten EP geändert, dass du jetzt erst die Verantwortung über deine Karriere hast?

Ich bin eine unabhängige Künstlerin, was bedeutet, dass ich die volle Kontrolle über alles bekomme, was ich tue: Veröffentlichungen, meine Kunst, meine Videos, die Visuals, die gesamte Kampagne. Das ist so schön. Dieses Debütalbum ist ausschließlich dadurch motiviert, was ich denke, was das Beste für mich ist. Im Gegensatz zu dem, was jemand anderes für das Beste für mich hält.

Also warst du vorher bei einem Label und hast dich eingeschränkt gefühlt?

Nun, ich war sieben Jahre bei einem und sie ließen mich kein Album herausbringen. Ich war immer nur eine Feature-Künstlerin für irgendwelche Popsongs. Bis ich zu Twitter gegangen bin und das Label öffentlich gebeten habe, mich gehen zu lassen. In Großbritannien hat der Aufruf mediale Aufmerksamkeit bekommen, sodass ich mehr Druckmittel hatte, um zu gehen. Und das tat ich. Darüber bin ich sehr froh.

Du wolltest also schon viel früher eine eigene Platte herausbringen?

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"Das war so respektlos", sagt Raye über die Zeit bei ihrem Ex-Label.

(Foto: Callum Walker Hutchinson)

Ja, es war absolut nicht meine Wahl, so lange zu warten. Als ich meinen Vertrag für vier Alben unterschrieb, war ich 17 und bereit, mein erstes Album zu veröffentlichen. Aber stattdessen musste ich Lieder singen, die ich nicht geliebt habe und auf die ich nicht stolz bin. Ich musste Musik machen mit dem Zweck, Musik zu verkaufen, nicht zu kreieren. Und ich hatte keine Möglichkeit, eine Fangemeinde aufzubauen. Bei den ganzen Dance-Songs, zu denen im Club getanzt wird, kümmert sich ja niemand darum, wer sie singt.

Was für einen Grund hat das Label angegeben, um dir trotz Vereinbarung eine eigene Platte zu verweigern?

Unter anderem, dass ich mir noch nicht das Recht verdient hätte, ein Album zu veröffentlichen. Dass ich dafür erst eine große Soloplatte bräuchte. Einen richtigen Hit, bevor ich die musikalische Seite an mir zeigen könnte, die ich wirklich ausdrücken wollte, um den Leuten zu zeigen, wer ich wirklich bin. Parallel dazu wurden junge Männer ins Label geholt, die ohne eigene Single direkt ein Budget für ein eigenes Album bekommen haben. Diese Doppelmoral war urkomisch. Noch dazu musste ich diesen Künstlern dabei helfen, Songs für ihre Alben zu schreiben. Und trotzdem hatte ich kein Recht, ein eigenes Werk zusammenzustellen. Das war so respektlos. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, das so lange zu machen und dabei höflich und nett zu bleiben. Das war eine sehr dunkle Zeit.

Und dann hast du diesen Tweet abgesetzt?

Ja, und er hat zum Glück die Aufmerksamkeit der Leute erregt. Viele verstehen immer noch nicht ganz, was in dieser Branche hinter verschlossenen Türen vor sich geht. Und ich hatte zu diesem Zeitpunkt nichts mehr zu verlieren. Jetzt bin ich dankbar dafür, denn alles, was ich durchgemacht habe, hat mich zu der Person, zu der Künstlerin gemacht, die ich bin. Dafür musste ich den ganzen Schmerz und all die Lügen abschütteln, die mir eingeredet wurden: dass ich noch nicht wisse, wer ich sei, eine Identitätskrise habe, verwirrend sei, bla, bla, bla.

Woran lag das?

Daran, dass ich eine Frau bin, denke ich. Ich erinnere mich daran, wie ich "By Your Side" bei Jonas Blue aufgenommen habe. Das war mein erster großer Dance-Hit und das erste Mal, dass ich ein Lied gesungen habe, das ich nicht selbst geschrieben habe. Ich hasste es, ich habe mich wirklich dagegen gewehrt. Aber es wurde eine große Nummer. Dieser Song hat zwar mein Leben verändert, aber auch den Standard für die Formel gesetzt, an dem mein Label mich und andere Frauen orientiert hat: Mach ein paar Dance-Nummern als Feature und dann kannst du irgendwann alleine etwas herausbringen. Mir wurde nie eine Chance gegeben, mich zu beweisen, weil diese Formel dem Label Millionen eingebracht hat und sie mehr davon wollten. Und ich kenne viele andere Künstlerinnen, die die gleiche Erfahrung gemacht haben.

Angesichts deiner Wahnsinns-Stimme ist das sehr erstaunlich. Man sollte doch davon ausgehen, dass sie dein Potenzial sofort erkannt haben sollten.

Aber das ist ja nicht, was die Label-Bosse antreibt. Es geht ihnen nicht um die Kunst. Sondern um Verkäufe, damit sie gut aussehen können, wenn es bei ihrem jährlichen Treffen darum geht, wer die größten Hits produziert und Geld verdient hat. Das ist das Business.

Gab es einen Wendepunkt, an dem du gesagt hast: Jetzt ist es genug?

Ja. Ich hatte gerade mehrere Lieder geschrieben, die in Großbritannien in den Top Ten gelandet sind. Also ging ich zum Label, forderte mein Album ein. Sie sagten mir, dass ich noch ein ähnliches Lied schreiben soll, einen symmetrischen, einfachen, glücklichen Popsong. Also schrieb ich "Call on Me". Es hieß: Wenn der auch in den Top Ten landet, bekommst du dein Album. Er hat es letztendlich nicht geschafft. Aber an dem Tag, an dem wir ihn aufgenommen haben, hat mir ein Mitarbeiter des Labels im Vertrauen gesagt, dass sie mich mein Album so oder so nicht machen lassen würden. Dass sie mir das aber nicht während meiner Arbeit mitteilen wollten. Das hat mich sehr verletzt.

Hoffentlich kannst du es ihnen mit "My 21st Century Blues" zeigen!

Ja, aber ich möchte nicht bitter sein, sondern mich auf die positiven Dinge konzentrieren. Man muss vergeben können. Sie haben mich mit meiner Musik gehen lassen, das passiert nicht oft. Jetzt will ich mir beweisen, dass ich eine Fangemeinde aufbauen und Tickets verkaufen kann.

Du singst auf deinem Album viel über Traumata, zum Beispiel in "Black Mascara". Gleichzeitig ist der Beat sehr hypnotisch und tanzbar. War das eine Entscheidung, um das Lied weniger schwer zu machen?

Auf jeden Fall. Für mich ist die Gegenüberstellung mit Musik interessanter, aber es macht diese spezielle Emotion auch verdaulicher. Meine Songs sind sehr persönlich, medizinische Anekdoten, wie ich mich gefühlt habe, als ich mittendrin war. Ich kann "Black Mascara" nicht am Klavier singen, das halte ich nicht aus. Das gleiche gilt für "Escapism". Wenn du das Lied nur nackt auf dem Klavier gehört hast, denkst du: Oh, das ist ein bisschen dunkel und intensiv. Aber wenn man es auf einen Beat setzt, der sich wie das Gegenteil anfühlt, kann man seinen Schmerz anders verarbeiten. Das liebe ich.

In "Ice Cream Man" singst du über einen sexuellen Übergriff. Beim Hören bekommt man richtig Gänsehaut. Nicht nur aus Mitgefühl, sondern weil du es geschafft hast, aus etwas so Grausamen etwas so Schönes zu zaubern, das ist unglaublich. Kann man über diese Art von Schmerz hinwegkommen?

Eine vollständige Heilung gibt es nie. Man muss in der Lage zu sein, einen Schritt zurückzutreten und es zu verarbeiten, damit es einfacher wird. Entscheidend ist, dass man sich dadurch nicht definieren lässt. In den schlimmsten Zeiten stiehlt es von dir. Es stiehlt die freudigen Teile, das Glück, die Offenheit, das Vertrauen. Im zweiten Vers beschreibe ich, wie dann mehrere Dinge hinzukommen und zu einem richtigen Haufen werden. Aber es ist das wahre Leben. Und durch meine Musik kann ich mich ermächtigen. Darüber kann ich sagen, was ich sagen möchte, wie ich mich fühle, egal was passiert. Die Veröffentlichung dieses Songs wird einer der interessantesten, aber kraftvollsten Erfahrungen für mich sein. Ich werde ja jetzt schon emotional, wenn ich darüber rede.

Was möchtest du mit dem Song ausdrücken?

Was ich durchgemacht habe und wie ich mich fühle, ohne Namen zu nennen, ohne mit dem Finger zu zeigen. Ich will, dass jeder, der ihn hört - jeder, der schon mal so etwas gemacht hat -, weiß, dass man eine Frau niemals, niemals, niemals so missbrauchen und verraten kann. Es soll in ihrem Trommelfell kochen. Ich werde definitiv eine Therapie brauchen, um dieses Lied auf der Bühne singen zu können, aber das ist leider etwas, das man als Künstlerin tun muss, ehrlich sein. Ich meine, wie viele Frauen gibt es da draußen, die mit so einem Trauma kämpfen? Ich hoffe zumindest, dass dies ein sicherer Raum für jeden wird, der weinen muss und diese Emotionen loslassen kann, die wir den ganzen Tag in uns tragen.

Gilt das auch für die Körperdysmorphien, über die du singst?

Oh, sicher. Ich meine, all diese Songs sind explizit ehrlich. Das sind alles Dinge, die mir widerfahren sind und über die wir einfach nicht reden, weil es peinlich ist. Wie bringe ich das in einem Gespräch mit meinen Freunden zur Sprache? "Oh, hey Leute, ich kämpfe mit Essstörungen"? Es gibt wirklich keinen sicheren Ort außer einer Therapiesitzung, um über diese Dinge zu sprechen. Aber wenn man etwas ans Licht bringt, hat es weniger Macht über einen.

Ist es dir wichtig, ein Vorbild zu sein oder diejenigen, die deine Musik hören, zu ermächtigen?

Zu Hundert Prozent. Ich benutze viele Schimpfwörter und Metaphern, einige meiner Songs sind nicht für Kinder gedacht, deswegen bin ich vielleicht nicht unbedingt ein Vorbild. Ich möchte einfach laut und transparent und mutig sein. Meine Priorität ist es, Geschichten zu erzählen, die erzählt werden müssen. Und ich möchte sie so explizit und transparent ausdrücken, wie es nur geht. Es gibt kein größeres Geschenk, als jemanden damit zu berühren. Ich habe die Hoffnung, dass dieses Album etwas sein wird, das die Leute brauchen. Weil ich diese Songs brauchte, bevor ich sie selbst geschrieben habe.

Du singst auch viel über Herzschmerz und einen Mann, der dich verlassen hat. Wie gehst du mit Trennungen um?

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In Sachen Liebe geht Raye mittlerweile vorsichtiger vor.

(Foto: Sebastian Kapfhammer)

Ich beschütze mein Herz heutzutage so sehr. Ich habe Mauern und einen dreistufigen Zaun. (lacht) Ich habe Songs geschrieben, getrunken, geweint und bin feiern gegangen. Und mich einfach mit tollen Menschen umgeben. Ich höre mittlerweile wirklich auf mein Bauchgefühl. Ich bin vorsichtiger und gehe die Dinge langsamer an.

Bist du auf der Suche nach einer Beziehung?

Ich möchte schon einen Partner haben. Ich möchte nicht mehrere, sondern eine Person. Ich möchte einen Ring. Ich möchte das große Ganze. Aber das wird Zeit brauchen und ich habe es nicht eilig. Bis ich das gefunden habe, können ein Mann und ich Freunde sein oder er kann wieder gehen. Ich bin nicht daran interessiert, dass mein Herz wieder gebrochen wird. Der Schmerz war einfach zu groß, dabei ist das schon ewig her, bestimmt drei Jahre. Aber ich werde diese Gefühle nicht wieder freiwillig fühlen. Trennungen sind wie ein Tod, als ob man einen geliebten Menschen verlieren würde.

Du warst gerade erst für ein Konzert in Berlin. Aber hast du schon eine Tour geplant?

Ja, ich habe gerade eine angekündigt, im März komme ich noch einmal nach Berlin. Es wird eine wunderschöne Tour. Oh mein Gott, ich bin so aufgeregt! Das wird wirklich etwas Besonderes.

Mit Raye sprach Linn Penkert

"My 21st Century Blues" ist ab sofort im Handel erhältlich.