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Schläge gegen Luftbasen: Ukraine zerstört Russlands "asymmetrischen Vorteil"

Mit den Attacken auf militärische Flughäfen tief im Landesinneren Russlands zeichnet sich eine neue Phase des Krieges ab. Die Ukraine scheint nun in der Lage, große Teile des europäischen Russlands zu bedrohen. Doch wie gelang das? Und wie wirkt sich das auf den Kriegsverlauf aus?

Die Angriffe auf zwei russische Militärflughäfen könnten eine Zäsur des Ukraine-Krieges bedeuten. Auch wenn es keine offizielle Bestätigung aus Kiew gibt - vieles deutet darauf hin, dass die Ukraine am Montag zum ersten Mal unter Beweis stellte, dass sie über weite Distanzen im Herzen Russlands angreifen kann. Bis dahin konnte die militärische Großmacht Russland auf ihrem eigenen Territorium annähernd ungestört schalten und walten und seine Bomberflotte für immer neue Attacken auf ukrainische Energieinfrastruktur aufmunitionieren.

Doch das scheint sich nun geändert zu haben. Erstmals gerieten die beiden russischen Militärflughäfen "Djagiljewo" im Gebiet Rjasan und "Engels" im Gebiet Saratow unter Beschuss. Von ihnen aus starten laut ukrainischer Darstellung regelmäßig russische Langstreckenbomber des Typs Tu-95 und Tu-22M mit Marschflugkörpern an Bord in Richtung Ukraine.

Zwei Flugzeuge sollen bei den Angriffen leicht beschädigt worden sein. Wie schwer die Schäden an der russischen Bomberflotte tatsächlich sind, lässt sich aber schwer abschätzen. Der Journalist Mark Krutov von Radio Liberty verbreitete auf Twitter Satellitenaufnahmen, welche Brandspuren und Feuerlöschschaum neben einer Tu-95 nach dem Angriff auf den Flughafen "Engels" zeigen sollen. Eine andere Aufnahme soll das beschädigte Heck eines Bombers auf dem Flughafen "Djagiljewo" zeigen, eine weitere ein ausgebranntes Tankfahrzeug - bei der Explosion des Fahrzeugs gab es auch die drei von Moskau gemeldeten Todesopfer.

Stützpunkt für Atomwaffen-Bomber

"Engels" ist zudem ein russischer Luftwaffenstützpunkt der strategischen Nuklearstreitkräfte. Der für Russland ungewöhnlich klingende Name des Flughafens stammt von der nahen Großstadt Engels, die wiederum nach dem deutschen Philosophen und kommunistischen Revolutionär Friedrich Engels benannt ist. Einst war die Stadt Verwaltungssitz der kurzlebigen autonomen Wolgadeutschen Republik - bis zu deren Auflösung und Deportation der deutschstämmigen Einwohner ab 1941.

Welche Art von Waffen könnte die Ukraine gegen die Flughäfen eingesetzt haben? Moskau gab bekannt, dass es sich um "reaktive Drohnen aus sowjetischer Produktion" gehandelt habe. Kiew selbst hat die Angriffe allerdings nicht offiziell bestätigt. Bereits Ende November hatte aber das in der Regel gut informierte ukrainische Militär-Magazin "Defense Express" spekuliert, dass die Ukraine sowjetische Aufklärungsdrohnen des Typs Tu-143 und Tu-141 "Segler" zu Marschflugkörpern umrüsten könnte.

Bereits im Frühjahr war es über dem Balkan zu einem Zwischenfall mit einer womöglich ukrainischen Tu-141 gekommen: Am 10. März war in Kroatien eine dieser Aufklärungsdrohnen abgestürzt. Zuvor war sie mutmaßlich in der Ukraine gestartet und hatte Rumänien und Ungarn überquert - wie Kroatien beide NATO-Länder.

Was man über die Drohne des Typs Tu-141 weiß: Sie ist fast 15 Meter lang und gut sechs Tonnen schwer. Normalerweise wird sie von einer mobilen Rampe aus gestartet, folgt dann einer vorprogrammierten Route und landet schließlich mittels eines Fallschirms. Sie soll zudem eine Reichweite von bis zu 1000 Kilometern haben, womit die Flugplätze in Russland von der Ukraine aus in Reichweite lägen. Die Drohne des Typs Tu-143 hingegen fliegt nur bis zu 200 Kilometer weit. Denkbar, dass die Ukraine die Tu-141 zur Kamikaze-Drohe umfunktioniert und statt mit Beobachtungstechnik mit Sprengstoff ausgestattet hat.

Führten Spezialkräfte Drohne ins Ziel?

Wenn es so war: Wie konnte diese Drohne die russische Flugabwehr umgehen und Ziele genau anfliegen? Laut Moskau flogen die Drohnen in geringer Höhe und wurden schließlich über den Flugplätzen abgeschossen - lediglich durch Absturz und Explosion der Trümmerteile sei es zu den Schäden gekommen. Bei der Navigation erfolgte mindestens einer der Angriffe mithilfe von Spezialkräften in der Nähe des Stützpunkts, berichtet die "New York Times" unter Verweis auf einen ukrainischen Regierungsmitarbeiter, der anonym bleiben will. Laut diesem waren die Flugkörper tatsächlich von ukrainischem Territorium aus gestartet.

Wenn es so war, würde das ins Bild passen: Dem ukrainische Militär gelang es zuletzt immer wieder, Gegner und Weltöffentlichkeit mit technischem Einfallsreichtum zu überraschen. Weiteres Beispiel dafür ist der kombinierte Drohnen-Angriff zu Wasser und aus der Luft Ende Oktober auf den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim. Mehrere russische Fregatten wurden dabei beschädigt. Die Ukraine setzte dabei unter anderem mutmaßlich selbst entwickelte Drohnenboote ein.

Bei der Attacke auf den russischen Militärflughafen Saki Anfang August auf der Krim haben womöglich ebenfalls Drohnen eine Rolle gespielt. Im September schrieb der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj allerdings, der Angriff sei mit Raketen ausgeführt worden. Bereits die Versenkung des Lenkwaffenkreuzers "Moskwa" im April durch zwei ukrainische Anti-Schiffs-Raketen des Typs Neptun hatte die technologischen Fähigkeiten des Landes unter Beweis gestellt.

Russlands "asymmetrischer Vorteil" in Gefahr

Doch was bedeuten die Angriffe auf die Flugplätze "Engels" und "Djagiljewo" für den weiteren Kriegsverlauf? Wenn die Ukraine tatsächlich in der Lage ist, Ziele im Großteil des europäischen Russlands unter Beschuss zu nehmen, sei der "asymmetrische Vorteil" Moskaus in Gefahr, kommentierte Luke Harding, Autor des Buches "Invasion" in einem Beitrag für den "Guardian". Denn Russland könne dann eben nicht mehr ungestört Marschflugkörper aus sicherer Entfernung vom eigenen Territorium aus starten.

Die Angriffe auf die Flughäfen könnten aber auch den Kriegsplänen von Kremlchef Wladimir Putin in die Hände spielen, vermutet der aus Moskau berichtende ntv-Korrespondent Rainer Munz: Sie "könnten dazu beitragen, dass mehr russische Bürger sich zukünftig pro Krieg positionieren." Zuletzt hatten Umfragen nahegelegt, dass die Zustimmung zum Krieg in der russischen Bevölkerung zuletzt deutlich gesunken war.

Putin selbst hatte in einer ersten Reaktion auf die Angriffe den Sicherheitsrat seines Landes einberufen. Putins Sprecher Dmitri Peskow sagte vor Reportern, die Behörden würden "notwendige" Maßnahmen ergreifen, um das Land vor ukrainischen Angriffen zu schützen.