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Studie zum Ende der Braunkohle in Nordrhein-Westfalen und Lützerath: Schneller Kohleausstieg führt zu höheren Emissionen

Ein Absetzer arbeitet im Braunkohletagebau Garzweiler.

Ein Absetzer arbeitet im Braunkohletagebau Garzweiler.

Foto: Federico Gambarini / picture alliance/dpa

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Der Ukrainekrieg und die Energiekrise verhageln dem Bundeswirtschaftsminister seit Monaten die Klimapläne. Mit umstrittenen Gas-Deals oder dem Hochfahren von Kohlemeilern kann Robert Habeck klimapolitisch nur verlieren.

Anfang Oktober sollte es dann mal eine positive Nachricht geben: Feierlich kündigte NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (NRW) zusammen mit Habeck an, den Braunkohleausstieg im Rheinischen Revier auf 2030 vorzuziehen. Ganze acht Jahre als ursprünglich geplant. Bei dem Termin war die Erleichterung richtig zu spüren.

Dadurch sollen angeblich 280 Millionen Tonnen Kohle im Boden bleiben – die Hälfte von derzeit geplanten 560 Millionen Tonnen des klimaschädlichen Energieträgers.

Mona Neubaur, Wirtschaftsministerin von Nordrhein-Westfalen mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck

Foto: Bernd Thissen / picture alliance / dpa

Der Schmerz der Grünen-Klientel darüber, dass wegen der Energiekrise klimaschädliche Braunkohlekraftwerke erstmal mehr Kohle verbrennen als bisher vorgesehen und auch das Dorf Lützerath am Garzweiler den Kohlebaggern weichen muss, sollte damit gelindert werden.

Das Versprechen der beiden Minister: Obwohl erstmal mehr Kohle verbrannt wird, würde durch den vorgezogenen Ausstieg letztlich die CO₂-Bilanz deutlich verbessert. Für den Klimaschutz, meinte Habeck damals, »ist das ein guter Tag«.

Lützerath und die kurzfristige Kohle-Renaissance sei zu verschmerzen, denn es gebe insgesamt viele Millionen Tonnen eingesparter Emissionen, so die politische Botschaft von Habeck und Neubaur. Am Donnerstagabend soll nun die Drucksache 20/4300  , der »Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung des Braunkohleausstiegs im Rheinischen Revier« im Bundestag verabschiedet – und damit dem Klimaschutz angeblich etwas Gutes getan werden.

Doch laut einer Studie des Energieberatungshauses Aurora, die dem SPIEGEL exklusiv vorliegt, wird der vorgezogene Kohleausstieg wenig zum Klimaschutz beitragen. Das Versprechen reicht nicht mal als Trostpflaster.

Mogelpackung Kohleausstieg

In den vergangenen Wochen haben die Energie-Experten von Aurora die Behauptung von dem »guten Tag für den Klimaschutz« überprüft – und kommen zu einem wenig erfreulichen Ergebnis: Der vorgezogene Kohleausstieg sei eine Mogelpackung, so das Ergebnis der Studie. Wird das Gesetz am Donnerstagabend verabschiedet und damit der Weg für einen Kohleausstieg in NRW für 2030 freigemacht, gebe es anders als verkündet keine Einsparung von Emissionen. Durch die kurzfristige »Rückholung« von Kohlemeilern würden sogar bis zu 61 Millionen Tonnen CO₂ mehr ausgestoßen. Bis 2030 gibt es sogar eine Überschreitung des im Klimaschutzgesetz angedachten Emissionspfades um 164 Millionen Tonnen.

»Ob ein Vorziehen des Kohleausstiegs wirklich Emissionen nach 2030 reduziert ist fraglich«

Niklas Höhne, Klimaforscher am New Climate Institute

Die Analysten haben dafür drei unterschiedliche Kohle-Szenarien bis 2038 im Auftrag des Kohle-kritischen Bündnisses Europe Beyond Coal durchgerechnet. Sie kalkulierten die Emissionen bei einem »Weiter so« ohne kurzfristige Erhöhung der Kohlekapazitäten , das nun geplante Modell einer temporären höheren aber dafür kürzeren Kohleverbrennung und ein Szenario, das auch noch den erhöhten Stromverbrauch bis 2030 mit einrechnet.

Bei dem mittleren Szenario, das dem Gesetzentwurf entspricht, gibt es eine Art Emissionsbauch, der bis 2030 wieder abflacht – die Klimaziele für den Energiesektor im Jahr 2030 werden also trotzdem knapp eingehalten. Doch bis dahin gibt es zahlreiche Überschreitungen und von der Menge her einen weitaus höheren Ausstoß als vorgesehen. Das wiederum frisst die angeblichen Einsparungen auf, die durch den um acht Jahre vorgezogenen Kohleausstieg entstehen.

Verstoß gegen das Klimaschutzgesetz?

Außerdem argumentiert die Studie, dass die Kohle nach 2030 ohnehin unwirtschaftlich wird – durch einen rückläufigen Gaspreis und einen stark ansteigenden CO2-Preis im europäischen Emissionshandel. Damit wären die angeblich durch den frühen Kohleausstieg eingesparten Emissionen ebenfalls hinfällig. Die Studie liest sich so, also ob der vorgezogene Kohleausstieg nicht viel mehr als ein politisches Placebo ist: Soll beruhigen, bringt aber eigentlich nichts.

Klimaaktivistin Luisa Neubauer am Tagebau Garzweiler: »Wir werden an Lützerath festhalten!«

Foto: Ina Fassbender / AFP

Die Auftraggeber der Studie sehen sogar ein Verstoß gegen das Klimaschutzgesetz. Dort sei eine »möglichst stetige« Reduktion der CO2-Emissionen bis 2030 vorgeschrieben. »Die Bundesregierung muss jetzt alle nötigen gesetzlichen Änderungen vornehmen und den Kohleausstieg 2030 in ganz Deutschland so umsetzen, dass die Einhaltung des Klimaschutzgesetzes sichergestellt wird«, meint Francesca Mascha Klein von ClientEarth. Schließlich sei ein solcher Emissionsbauch nicht durch das Gesetz gedeckt.

Karsten Smid von Greenpeace ergänzt: »Weil mehr Braunkohle verbrannt wird, droht der Energiesektor sein klimapolitisch zulässiges CO2-Restbudget massiv zu überschreiten und fällt über Jahre für den Klimaschutz aus.«

Der an der Studie nicht beteiligte Klimaforscher Niklas Höhne meint: »Die Studie bestätigt, dass ein Rückholen abzuschaltender Kohlekraftwerke die Emissionen vor 2030 erhöht«. Ob ein Vorziehen des Kohleausstiegs wirklich Emissionen nach 2030 reduziert, sei aber laut der Studie fraglich. Und damit auch die Argumentation des Wirtschaftsministers.

Lützerath: Das Dorf muss weg – oder doch nicht?

Auch beim umstrittenen Abbaggern des Dorfes Lützerath sehen sich Kohlekritiker bestätigt. Der Ort soll abgerissen werden, um den erhöhten Kohlebedarf der nächsten Jahre zu decken, heißt es vom Betreiber RWE. Dafür gibt es nun auch im Ausstiegs-Gesetz einen Freifahrtschein . Mittlerweile ist das Dorf zu einem Symbol für die Klimabewegung geworden.

Die Autoren der Aurora-Studie haben aber errechnet: Für den Betrieb der Braunkohlekraftwerke Neurath und Niederaußem würden bis 2030 maximal 234 Millionen Tonnen Braunkohle aus den beiden Tagebauen Garzweiler und Hambach gebraucht – sogar unter dem Szenario eines steigenden Stromverbrauchs. Im Garzweiler, in dessen Bereich das Dorf liegt, müssten nach den Berechnungen noch maximal 124 Millionen Tonnen weggebaggert werden. Damit wäre das Dorf gerettet.

Denn erst ab einem Bedarf von 170 Millionen Tonnen wird die Kohle unter Lützerath überhaupt gebraucht – das wiederum steht in dem Gutachten, auf das sich Habeck und die NRW-Landesregierung stützen. Diese Zahlen sind Grundlage des Gesetzes zum vorgezogenen Kohleausstieg, das am Donnerstag verabschiedet wird. Sie stammen vom Gutachten des Büros für Energiewirtschaft und technische Planung (BET) vom September.

Dort wird anders als bei der aktuellen Aurora-Studie eine viel höhere Menge von Kohle angenommen, die noch bis 2030 verbrannt werden soll. Demnach müssen aus Garzweiler in jedem Fall über 170 Millionen Tonnen abgebaggert werden – und somit auch das Dorf Lützerath. Sonst gebe es keine »ausreichenden Kohlemengen«, um die Kraftwerke zu versorgen, heißt es dann bei RWE. Das führe zu einer »Unterdeckung, insbesondere in der Gasmangellage«.

An diesem Gutachten von BET gab es viel Kritik . Die Schätzungen der Gutachter zu den Mengen der Braunkohle seien zu sehr von Daten des Kohlekonzerns RWE beeinflusst und zu dem unter Zeitdruck entstanden.

Abriss des Dorfes Lützerath bei Erkelenz durch den Energiekonzern RWE: der Ort soll dem Braunkohle Tagebau Garzweiler II weichen

Foto: Jochen Tack / imago images/Jochen Tack

Die chaotische Datenlage zeigt aber auch, wie ungenau solche Prognosen sind – und dass sich diese Annahmen jederzeit ändern können: »Das Kohlegesetz muss deshalb regelmäßig überprüft und bei Bedarf angepasst werden, um einen CO2-Reduktionspfad im Einklang mit dem Klimaschutzgesetz zu erreichen«, meint Fabian Hübner von Europe Beyond Coal.

Das gilt dann für beide Fälle, wenn mehr oder weniger Kohle benötigt wird. Die grüne Bundestagsabgeordnete Kathrin Henneberger erklärte, dass solche Überprüfungen mittlerweile auch im Kohleausstiegsgesetz enthalten seien. Denn im worst-case könnte auch so viel Kohle verbrannt werden, dass sogar die Klimaziele 2030 in Gefahr geraten. Das sei Stand heute noch nicht abschätzbar. »Im Falle einer drohenden Nichterreichung der Klimaschutzziele müssen Maßnahmen zur Zielerreichung vorgeschlagen werden.« Diese Überprüfung einzufordern liege nun in der Verantwortung des Parlaments, »egal wie sehr dies den Interessen von Kohlekonzernen wie RWE widerspricht«, so Henneberger.

Gutachter-Streit über Strommengen und den Erfolg der Energiewende

Dennoch: wie kommt es, dass die neue Studie von Aurora von viel geringeren Kohlemengen ausgeht – trotz steigendem Strombedarf durch Elektroautos, Wärmepumpen oder Wasserstoffproduktion?

Das Problem: Niemand kann genau sagen, wie stark der Strombedarf bis 2030 steigt. Das hängt auch davon ab, wie stark fossile durch erneuerbare Energieträger ersetzt werden. Daran entschiedet sich am Ende auch, wie viele Emissionen in die Atmosphäre steigen.

»Diese Annahmen von sehr niedrigen Erdgaspreisen und deutlich gestiegenen CO2-Preise sind hochspekulativ«

Felix Matthes, Energieexperte des Öko-Instituts.

So rechnen die Gutachter von BET mit 750 Terawattstunden Stromverbrauch im Jahr 2030, Aurora nur mit rund 670.

»Unser Szenario beschreibt den wahrscheinlichsten Pfad, reine Ziele übernehmen wir nicht 1:1 in unseren zentralen Ausblick«, sagt Aurora Studienautor Nicolas Leicht. »Wir gehen davon aus, dass es zwar mehr Erneuerbare gibt aber die Regierungsziele durch den schleppenden Ausbau nicht erreicht werden können.« Ohne einen starken Ausbau der Erneuerbaren werde dann etwa deutlich weniger Wasserstoff hergestellt und damit auch weniger Strom nachgefragt.

Nach dem Aurora-Szenario wird Gas wieder billiger, die Kohlemeiler Ende der 2020er-Jahre hingegen unrentabel. »Wenn die Betreiber aufgrund von hohen CO2-Preisen ihre Grenzkosten nicht mehr decken können, werden die sie Meiler schrittweise vom Netz nehmen«, glaubt Studienautor Leicht. Es sei derzeit unwahrscheinlich, dass Wind- und Solarenergie in dem Maße zunehmen, wie von der Regierung geplant. Vermutlich werde Gas dann in die Lücke springen, weil Wasserstoff noch nicht zur Verfügung stehe und Kohle zumindest zunächst teurer wäre.

Genau das ist wiederum auch die Kritik an der Aurora-Studie: »Diese Annahmen von sehr niedrigen Erdgaspreisen und deutlich gestiegenen CO2-Preise sind hochspekulativ«, kommentiert Felix Matthes vom Öko-Institut. »Wenn der Markt sich anders entwickelt, hätten wir erst einen sehr viel späteren Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohle«, so Matthes. Sich beim Klimaschutz allein auf den Markt zu verlassen, sei keine gute Idee.

Ohne gesicherte Daten, keine politische Entscheidung

Wissenschaftler Höhne meint hingegen, die Studie bestätige, was viele Experten schon lange mutmaßen: dass es sich nach 2030 einfach nicht mehr lohne, Kohlekraftwerke laufen zu lassen. »Ein Vorziehen des formellen Kohleausstiegs auf 2030 hat also keine zusätzliche positive Wirkung nach 2030, im Vergleich zu dem, was sowieso passieren würde«, so Höhne. Nur wenn man annehme, dass Kohlekraftwerke wirklich bis 2038 laufen, reduziere das Vorziehen des Kohleausstiegs tatsächlich die Emissionen.

Egal, welchem Szenario am Ende geglaubt wird, eines zeigt die Aurora-Studie recht eindeutig: Bundeswirtschaftsminister Habeck und die NRW-Landesregierung müssen sich nun fragen lassen, warum sie nicht noch mal nachgerechnet haben. Die bisherigen Gutachten waren vielleicht nicht komplett falsch, aber zumindest recht einseitig. Sich auf Daten von Betreibern zu verlassen, wenn über Kohlemengen gesprochen wird, ist nie eine gute Idee.

Immerhin geht es dabei nicht nur um Zahlenspiele, sondern um ein Gesetz, beträchtliche CO2-Mengen und das Schicksal eines nicht mehr bewohnten Dorfes.