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Titel verspielt, Herzen gewonnen: BVB stürzt weinend im würdevollsten Debakel der Geschichte

Titel verspielt, Herzen gewonnen BVB stürzt weinend im würdevollsten Debakel der Geschichte

Alles ist angerichtet in Dortmund. Noch einmal 90 Minuten Fußball. Dann beginnt die Feier. Mindestens zwei Tage soll sie dauern. Sie endet nach 90 Minuten mit Tränen. Der BVB stürzt in den Horror. Alles ist still. Alle schweigen. Und dann passiert etwas, was den Verein retten könnte.

Was wirkliche Liebe ist, bewiesen die Fans von Borussia Dortmund weit nach dem Ende des wohl größten Alptraums der jüngeren Vereinsgeschichte. Was Größe ist, bewies dieser Verein, der jetzt für immer dazu verdammt ist, mit dieser unglaublichen Schmach zu leben. Mit einem 2:2 (0:2)-Unentschieden gegen den FSV Mainz vergab der BVB die wohl einmalige Chance auf den Deutschen Meistertitel. Sie hätten nur gewinnen müssen. So wie in den letzten elf Spielen im heimischen Westfalenstadion. Sie zerbrachen, rafften sich auf und erreichten die Ziellinie geschlagen. Bayern München ist Deutscher Meister und schmeißt Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić raus. Borussia Dortmund ist nicht Meister und verabschiedet sich mit größter Würde.

Erst einmal sackten sie aber zusammen. Sie hatten sich nicht mehr unter Kontrolle. Als alles vorbei war, starben sie mit dem Traum. Das Stadion war so still wie noch nie, dabei hatten sie so laut sein wollen wie noch nie. Sogar die mitgereisten Mainzer Fans schwiegen. Niemand singt, wenn der Sarg in die Erde runtergelassen wird. Und es war eine Beerdigung. Eine, die niemand hatte kommen sehen. Die Dortmunder waren nicht aus der Kurve getragen worden, sondern in der ersten Halbzeit vor Angst gestorben. Alle Wiederbelebungsmaßnahmen blieben ohne Erfolg. Weil Bayern München ablieferte.

Die Spieler froren ein und verharrten auf dem Platz, starrten in die Richtung, in die der Titel verschwunden war. Mats Hummels stand, Marco Reus, der nie einen Deutschen Meistertitel erringen wird, zerbrach. Die Klublegende wird auf immer nach der Erfüllung suchen und sie nicht mehr finden. Die Südtribüne sah das und weckten ihn mit den Gesängen, zogen sich ihren Kapitän heraus. Sie zogen sich nahezu die komplette Mannschaft heraus, die mit Weichzeichnern nun auf der Videotafel zu sehen war.

Hängende Köpfe vor der Gelben Wand, die zuckte, die atmete und auf einmal wieder lebte. "Wir sind alle Dortmunder Jungs", sangen sie. Die da unten hatten ihnen den Traum geschenkt und jetzt dankten sie ihnen. "Aufstehen, aufstehen!", forderten sie die Spieler auf. Mit verschränkten Schultern beobachtete Trainer Edin Terzić etwas abseits das Geschehen. Ihm kamen die Tränen. Die Fans riefen seinen Namen. Er ging voran, klopfte auf sein Herz, reckte die Hände in die Luft und zerbrach wieder. Die Südtribüne sang und trat den Beweis an, ein magischer Ort im Weltfußball zu sein. Wohl selten wurde das Versagen einer Mannschaft so würdevoll aufgefangen. "Was in diesem Stadion passiert, war aller Ehren wert. Es war das einzige Positive heute", sagte Julian Brandt.

Ein Hügel wächst zum Mount Everest

Edin Terzić hatte dem BVB die Meisterschaft bringen wollen. Er war so nah dran. Nur eine Niederlage und vier Unentschieden in den 19 Spielen seit der WM-Pause nach einer rumpelnden ersten Halbserie. Es war nicht gut. Dabei wären sie beinahe sogar mit einer Pleite Meister geworden. Die magischen Worte: "1:1 in Köln!" Da waren sie nämlich. Als alle nicht mehr gehofft hatten. Das Stadion eskalierte. Dann wieder: das Schweigen. Das 2:1 in Köln, das nicht verkündet wurde. Weil es nichts zu verkünden gab. Jeder wusste es ohnehin. Borussia Dortmund verspielte die Deutsche Meisterschaft und versank in Depressionen. Für siebzehn Minuten kurz vor Ende der Saison hatten sie die Hand in diesem Meisterschaftsfinale an der Schale. Acht zu Beginn des Spieltags, neun so kurz vor Schluss, dass sogar die Ordner sich bereits vor der Südtribüne aufgebaut hatten. Was auf dem Platz passierte, war egal. Es war vorbei. Bis die Spieler zusammenbrachen und wieder aufgerichtet wurden.

Der Horror hatte früh genug begonnen. Plötzlich wurde aus dem kleinen Hügel zur Meisterschaft der Mount Everest. Er türmte sich vor Borussia Dortmund auf. Nicht zu erklimmen. Schon gar nicht ohne Sauerstoff. Der BVB stand vor der gigantischen Wand und hatten Angst vor dem Aufstieg. Andreas Hanche-Olson hatte Mainz in der 15. Minute nach einer Ecke in Führung gebracht und ausgerechnet Sebastien Haller nur vier Minuten später einen Elfmeter vergeben. Drüben in Köln stand es 1:0 für die Bayern. Alles weg. All die Träume von der Meisterschaft. Weggeworfen nach dem 0:2 durch Karim Onisiwo in der 24. Minute. Dann passierte lange nichts mehr. Die Gesänge ebbten ab. Aus Vorfreude wurde blanker Horror.

Der klappernde Riese zerfiel im Angesicht der Geschichte erneut in seine Einzelteile. Im Fallen zuckte er noch, erarbeitete sich ein paar Chancen und stürzte bei jedem Versuch, wenigstens ein paar Meter den Weg nach oben zu machen. Julian Brandt scheiterte, Bayern traf erneut, aber zurückgenommen, Mats Hummels scheiterte, Donyell Malen ans Außennetz. Alles war vorbei. Gerade 45 Minuten gespielt. Es war klar: Die riesige Konstruktion ganz oben über der Westtribüne des Stadions würde auf ewig verhangen bleiben. Sie sollte die Meisterfeier begleiten.

Ein Moment der Hoffnung

Seit dem historischen 2:3 gegen Werder Bremen im August 2022 hatten sie nicht mehr im Westfalenstadion verloren. Elf Siege hatten sie in Dortmund in Folge feiern können. "Wir haben es in der Hand", stand auf einem Banner vor der Süd. Das hatten sie und sie schmissen alles weg. Achtlos und mit zunehmender Spielzeit auch verzweifelt.

Es war ein Absturz am letzten Spieltag nur vergleichbar mit dem 0:2 der Leverkusener in Unterhaching im Jahr 2000. Alles, was den BVB in dieser Rückrunde ausgemacht hat, zerbrach unter dem Druck. Haller, der Emre Can vor dem Elfmeter den Ball abluchste, vergab. Julian Brandt, dessen Pässe die letzte Linie nicht brechen konnte. Donyell Malen, der keine Tiefe in sein Spiel bringen konnte und in der 62. Minute aus kurzer Distanz vergab.

Auf der Tribüne wandelte der Horror sich erst in Unmut und dann in Lautstärke. Ein letzter Versuch. Der junge Julien Duranville debütiert, veränderte etwas im Spiel. Das Stadion lebte wieder. Lauter, immer lauter. Immer wieder befeuert von den vergebenen Chancen auf den Anschluss. Die gab es. Im Minutentakt. Sie hingen im Strafraum fest. Sie verzogen und verirrten sich in der letzten Hoffnung. Mats Hummels war schon lange nur noch Mittelstürmer.

Ein Schrei dann: Der eingewechselte Gio Reyna wühlte, wühlte, wühlte, Raphael Guerreiro traf. 1:2. "Weiter, weiter, weiter", schrie Stadionsprecher Norbert Dickel. "Nur der BVB", riefen die auf der Tribüne: "Unser ganzes Leben, unser ganzer Stolz." Noch 20 Minuten. Fallrückzieher von Marco Reus übers Tor, ein Kopfball auch. Doch nur noch Niklas Süle traf noch. Da war das Spiel in München schon aus und da ging auch in Dortmund nichts mehr. 2:2. Ende.

"Der Edin hat Dortmund verstanden"

"Dieser Spieltag wird uns sehr lange weh tun", sagte Terzić. Weil eine ganze Stadt bereit für die absolute Ekstase war. Drei Stunden vor dem Spiel robbten sich ein Fanmarsch in Richtung Stadion. Weil sie unter einer der Brücke der B1 standen und weil sie sangen, waren diese Fans besonders: Sie waren laut. Überall sonst war die Anspannung greifbar. Die Gespräche kreisten um die Möglichkeit des Scheiterns, um die Suche nach der letzten Karte und natürlich um Trainer Terzić, der Dortmund die Borussia zurückgegeben hatte.

Über Jahre spielten sie zwar in der Stadt, doch die Verbindung war unter seinen Vorgänger abgerissen. Die Favres, die Roses und die Tuchels waren Handlungsreisende in Sachen Fußball. "Der Edin", sagten sie, "der hat Dortmund verstanden." Alle, die sie in den Straßen standen und alle, die sie arbeiten mussten an diesem Tag, trugen nur eine Farbe: Gelb. Ob hinter dem Marktstand, am Dönerspieß oder in der Straßenbahn.

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Auf der Süd brannte schon vor dem Spiel ein Feuerwerk.

(Foto: IMAGO/osnapix)

Die Woche über war die Stimmung in Dortmund endgültig übergekocht. Überlebensgroße Pappaufsteller der Spieler säumten die Straßen, die Gärten waren beflaggt und alle trugen Gelb. Das Lokalradio verloste noch einige Resttickets unter denen, die die fiktiven letzten Minuten bis zur Meisterschaft kommentierten. Kurz gesagt: Die Anhänger des BVB machten alles. Sie wollten nur ihren BVB siegen sehen. Noch einmal die Meisterschaft holen. All ihre Anstrengungen waren vergebens.

Kaum jemand hatte ohnehin damit gerechnet. Weil Fußball hier so besonders ist, weil eine Meisterschaft hier nicht gewöhnlich ist, waren die Woche über schon Reporter aus der ganzen Welt nach Dortmund gereist. Sie alle wollten die Momente aufsaugen, wollten das vermelden, was niemand glauben konnte: Borussia Dortmund ist Deutscher Meister 2023. Denn seit die Bundesliga vor genau zehn Jahren mit dem "All German final" zwischen Bayern München und Borussia Dortmund in Wembley für kurze Zeit zum Sehnsuchtsort des Weltfußballs geworden war, war es mit der Wettbewerbsfähigkeit bergab gegangen.

Die Fallhöhe in Dortmund war enorm. Jedes Scheitern würde sofort als der epochale Kollaps gedeutet werden, der es am Ende eben auch war. Dabei hatte Dortmund keine Wahl. Sie mussten sich auf den Ausnahmezustand vorbereiten. "Wir wollten doch genau diese Atmosphäre haben", sagte Terzic: "Wir haben in Deutschland immer gesagt, wir wollen wieder eine spannende Bundesliga haben. Es war dann anders als wir gedacht haben."

Schon über den weit vor Anpfiff hoffnungslos überfüllten Kneipen, auf dem Alten Markt - dem zentralen Ort der Reviermetropole - und auch in den bereits Stunden vor dem Spiel knallvollen Straßenbahnen hing immer auch ein wenig die Option des Scheiterns. Das Selbstvertrauen kam erst als sie ins Stadion schritten, sich unter der Süd noch einmal sammelten. Als sie die Stufen auf die Tribüne nahmen, verschmolzen sie zu einem riesigen Organismus. In ihm waren sie eins, und durch ihn wollten sie leuchten. Es gelangen ihnen. Aber erst nach Schlusspfiff.

"Wir haben der Stadt den Glauben geschenkt", sagte Edin Terzić und bedankte sich, den Tränen wieder nahe, auch bei der Presse. Er bekam Applaus, klopfte auf den Tisch: "Wir versuchen es nächste Saison nochmal". Doch die große Chance auf den Titel war dahin. In der Stadt wurden allen Feiern abgesagt. Doch es blieb dabei: Nach dem bittersten Unentschieden bewahrten die Dortmunder ihre Würde. Auch das wird von diesem denkwürdigen Tag in Erinnerung bleiben.