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Trotz Entspannung am Gasmarkt: "Auf Verbraucher rollt Preiserhöhungswelle zu"

Der europäische Gaspreis geht merklich zurück, notiert kürzlich sogar auf dem niedrigsten Stand seit gut zwei Monaten. Im Interview mit ntv.de erklärt der Geschäftsführer des Verbands "Zukunft Gas", warum von dem Preisverfall beim Verbraucher vorerst nichts ankommen wird.

ntv.de: Der Gaspreis fällt zuletzt merklich und erreichte zeitweise den niedrigsten Stand seit Ende Juli. Was kommt davon beim Verbraucher an?

Timm Kehler: Auch der aktuell gesunkene Gaspreis ist noch viel zu hoch. Wir müssen uns vor Augen führen: Die Preise, die heute für Gas bezahlt werden, sind fünfmal so hoch wie vor anderthalb Jahren. Damit rollt auf die Verbraucher eine Preiserhöhungswelle zu, auch wenn die Erdgaspreise gerade sinken.

Die Verbraucher merken von dem Preisverfall vorerst also reichlich wenig?

Dr Timm Kehler_Zukunft Gas.jpg
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Timm Kehler ist Geschäftsführer des Verbands "Zukunft Gas".

Das Gegenteil ist sogar der Fall. Unserer Einschätzung nach haben viele Kunden die wirklichen Preisspitzen noch gar nicht gesehen. Sie kommen erst Schritt für Schritt bei den Verbrauchern an. Viele Versorger halten sich sogar noch zurück. Die Post mit weiteren Preiserhöhungen wird erst nach und nach bei den Kunden ankommen.

Die Erhöhungen fallen also auch durch die aktuell sinkenden Preise nicht geringer aus?

Die Preise, die derzeit am Spotmarkt aufgerufen werden, sind nur eine Momentaufnahme. Die Einkaufsstrategien der Versorger sind meist längerfristig aufgestellt. Man kann daher nach wenigen Tagen mit gesunkenen Spotmarkt-Preisen noch nicht sagen, wie sich das auf die längerfristigen Einkaufspreise der Versorger auswirkt.

Welche Rolle spielen Verbraucher und das Wetter bei der Preisentwicklung?

Eine sinkende Nachfrage hat einen positiven Effekt auf die Preise. Wenn der Gasverbrauch in den privaten Haushalten und der Industrie reduziert wird, hat das einen dämpfenden Effekt auf die Preise. Das Gleiche gilt für das Wetter: Wenn es warm ist, wird weniger Gas verbraucht und damit sinken auch die Preise.

Wieso unterscheiden sich die Preise der einzelnen Versorger so stark?

Das liegt an den unterschiedlichen Einkaufsstrategien. Viele etablierte Unternehmen und Stadtwerke kaufen sehr langfristig ein. Deswegen sind viele in der Lage, noch vergleichsweise günstige Preise, an den Kunden weiterzugeben. Andere Versorger, die sehr kurzfristig beschaffen, bekommen hingegen bereits die volle Wucht der Preiskurve zu spüren.

Wie sieht es bei Industriekunden aus?

Anders als private Haushalte kann die Industrie durchaus eine Entlastung spüren - je nachdem, wie die einzelnen Unternehmen im Markt einkaufen. Die Preise, auf die wir immer schauen, sind Spot-Preise, also Tagespreise, die sehr kurzfristig aufgerufen werden. Üblicherweise kaufen Industrieunternehmen eher auf Termin ein. Das heißt, sie beschaffen sich ein, zwei oder sogar drei Jahre im Voraus Gas. So können sie sich ein Stück weit gegen Preisspitzen absichern.

Werden die Erdgaspreise wieder auf Vorkriegsniveau fallen?

Es gibt zumindest einen Hoffnungsschimmer. Die extremen Preisspitzen, die wir in den vergangenen Monaten beobachtet haben, beinhalten sehr viel Angst vor dem, was möglicherweise auf uns zukommt. Mittlerweile wird immer klarer, dass wir Angebot und Nachfrage so justieren können, dass es wieder zusammenpasst. Auf der einen Seite werden LNG-Terminals gebaut und auf der anderen Seite sparen Verbraucher und auch die Industrie Gas ein. Es ist absehbar, dass die extremen Ausschläge und die Nervosität ein Ende nehmen werden. Gleichzeitig sehen wir, dass die Gasmärkte global gesehen relativ eng sind. Das heißt, wir werden es mittelfristig nicht schaffen, die Pipeline-Exporte Russlands vollständig durch LNG zu ersetzen. Deswegen erwarte ich ein eher höheres Preisniveau als in den vergangenen zwei, drei Jahren.

Wo wird sich das Preisniveau einpendeln?

In den nächsten anderthalb Jahren wird so viel auf dem Gasmarkt passiert, dass wir eine Entspannung sehen werden. Wir könnten zumindest das Preisniveau von Anfang dieses Jahres erreichen. Und wenn in den USA, Katar und anderen Regionen, große LNG- Verflüssigungsprojekte auf den Weg gebracht werden und Europa eine langfristige Strategie für den Import entwickelt, dann werden wir auch auf die Niveaus zurückkommen, die wir 2018 gesehen haben.

Was muss passieren, damit fallende Gaspreise auch beim Verbraucher ankommen?

Wir müssen Angebot und Nachfrage so justieren, dass es passt und keine Knappheit mehr herrscht. Die Hauptaufgabe ist jetzt, die LNG-Importe hochzufahren und langfristige Verträge mit Lieferländern zu verhandeln. Wir sehen, dass bislang zu wenig in Verflüssigungskapazitäten investiert wird, als getan werden muss, um mehr flüssiges Erdgas herzustellen als bisher.

Warum bricht der Gaspreis aktuell überhaupt ein?

Wie bereits angedeutet: Wir schauen immer nur auf die Preise, die für den nächsten Tag fällig werden. Das ist ein Marktsegment, auf dem sich Akteure bewegen, die zu wenig über Langfristverträge eingekauft haben. Mittlerweile wissen alle Marktteilnehmer um die Rahmenbedingungen und es ist klar, dass aus Russland kein Gas mehr kommen wird. Entsprechend haben auch diese sich inzwischen eingedeckt. Auf den Kurzfrist-Terminmärkten herrscht deswegen derzeit nicht mehr eine so große Nachfrage, auch weil die Speicher sich immer weiter füllen.

Die Bundesnetzagentur hat erst heute die Verbraucher wieder zum Gassparen aufgerufen, der Verbrauch steigt zu stark.

Das Ziel lautet 95 Prozent bis zum 1. November – das ist in drei Wochen. Wir haben derzeit einen Speicherfüllstand von 92 Prozent. Pro Tag kommen ungefähr 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte hinzu, Tendenz fallend. Wenn man das hochrechnet, wird es relativ knapp, die 95 Prozent zu erreichen. Wir müssen uns bei der Gasnachfrage also zurückhalten, auch in der Industrie.

Mit Timm Kehler sprach Juliane Kipper