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Umstrittene Justizreform: Netanjahu bringt Start-up-Szene gegen sich auf

Start-ups sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Israel. Im Streit um die Justizreform der Regierung Netanjahu stehen die Gründerinnen und Gründer auf Seiten der Gegner. Es droht eine massenhafte Abwanderung mit erheblichen Folgen für den Staatshaushalt

Bislang hat sich die israelische Technologie-Branche noch nie groß in die Politik eingemischt. Doch das ändert sich gerade. Auf den Straßen machen die elfte Woche in Folge Tausende Menschen ihrem Ärger über eine geplante Justizreform der rechts-religiösen Regierung Luft und auch in der Wirtschaft formiert sich Widerstand.

Gründer und Unternehmer finanzieren nicht nur die Proteste, sie warnen auch lautstark vor den wirtschaftlichen Konsequenzen des Gesetzesvorhabens der Regierung. Die Pläne zielen darauf ab, die Befugnisse der Justiz drastisch einzuschränken. Kritiker fürchten eine Aufhebung der Gewaltenteilung und damit eine Aushöhlung der Demokratie.

In der Wirtschaftszeitung „Calcalist“ haben zuletzt 400 Hightech-Unternehmen unter dem Titel „Ohne Demokratie gibt es keinen Markt“ die Pläne von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu aufs Schärfste kritisiert und vor „verheerenden Folgen“ gewarnt, sollte die Regierung ihre Reform durchdrücken.

Das neue politische Engagement kommt nicht von ungefähr. „Die meisten Techunternehmer verstehen, dass eine starke liberale Demokratie und eine freie Marktwirtschaft eine Voraussetzung für das weitere Wachstum Israels und seine langfristige Existenz ist“, erklärt Ido Baum, Juraprofessor und Direktor des Brandeis Instituts für Gesellschaft, Wirtschaft und Demokratie der israelischen Zeitung „The Marker-Haaretz“, ntv.de.

Die Branche sei sich inzwischen über ihre besondere Rolle für die israelische Wirtschaft klar geworden. Baum, der sich auch als juristischer Kommentator einen Namen gemacht hat, mutmaßt deswegen: „Techunternehmen gehören wahrscheinlich zu den wenigen, die die Reformen durch ihren wirtschaftlichen Druck noch am ehesten aufhalten können.“ Die dynamische Start-up-Szene gilt schließlich als wichtigstes Zugpferd der Wirtschaft. Israelische Hightech-Produkte machen mit 54 Prozent mehr als die Hälfte der Exporte des Landes aus. Israelis haben über 90 sogenannte Einhörner gegründet – also Unternehmen, die mehr als 1 Mrd. Dollar wert sind.

Kapitalflucht hat längst begonnen

Die Justizreform droht der Start-up-Nation gefährlich zu werden. Die meisten innovativen Unternehmen werden von amerikanischen oder internationalen Investoren oder Fonds finanziert. „Die durch die Reform verursachte Destabilisierung und Unsicherheit wird Investoren kurz- oder langfristig abschrecken“, sagt Baum. Und er geht sogar noch weiter: „Dieser Schlag könnte die israelische Techbranche viel früher treffen als bislang angenommen.“

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Auch der israelische Zentralbankchef Amir Jaron warnte Netanjahu bereits davor, die Reform könnte Investoren abschrecken und der Wirtschaft schaden. Netanjahu selbst winkt jedoch ab und behauptet, seine geplante Reform würde die Wirtschaft sogar stärken. Doch erste Indizien dafür, dass die Kapitalflucht schon begonnen hat, gibt es bereits. „Wir haben mehrere Fälle erlebt, in denen führende Techunternehmen beschlossen haben, Gelder aus Israel abzuziehen. Einige taten dies öffentlich. Andere taten dies, ohne es anzukündigen“, sagt Baum.

Eine Umfrage von „Calcalist“ unter 37 Unternehmen stützt diese Einschätzung. Demnach haben etliche Unternehmen angegeben, insgesamt rund 780 Mio. Dollar aus Israel abzuziehen. So auch die Cloud-basierte Gehaltsabrechnungsplattform Papaya Global. Schon im Januar gab Chefin Einat Guez bekannt: Das Unternehmen transferiert gemeinsam mit zwei Venture Fonds etwa 250 Mio. US-Dollar ins Ausland. Der Wert des Unternehmens ist nach Angaben der „Jerusalem Post“ 2021 auf umgerechnet 3,4 Mrd. Euro geschätzt worden. Zu den 700 Kunden gehörten etwa Unternehmen wie Microsoft und Toyota.

In einer Mitteilung bezog sich Guez direkt auf die Reformpläne von Netanjahu. „Angesichts der Erklärung von Regierungschef Netanjahu, dass er entschlossen ist, Reformen durchzusetzen, die der Demokratie und Wirtschaft schaden werden, haben wir bei Papaya Global die finanzielle Entscheidung getroffen, alle Gelder aus Israel abzuziehen“, schrieb Guez bei Twitter. Angesichts der erwarteten Reformen gebe es keine Sicherheit mehr, „dass wir von Israel aus internationale finanzielle Aktivitäten ausführen können“. Es handele sich um einen „schmerzhaften, aber notwendigen finanziellen Schritt“.

Wenn Top-Verdiener das Land verlassen, ist die Staatskasse schnell leer

Als Reaktion auf den Geldabzug aus Israel haben laut Baum einige israelische Unternehmen, die an der New Yorker Börse gehandelt werden, ihre Aktionäre vor der Instabilität des israelischen Justizsystems gewarnt. „Es ist wahrscheinlich, dass einige dieser Unternehmen versuchen werden, das Risiko zu mindern, indem sie einige Ressourcen aus Israel abziehen“, sagt er.

Und beim Abzug von Geld muss es nicht bleiben. Denn: Im Vergleich zu anderen Branchen ist der Technologiesektor längst nicht mehr an einen Standort gebunden. Auch wenn viele Unternehmer ihren Firmensitz noch in Israel haben. Der größte Teil ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit oder die Softwareentwicklung findet bereits in anderen Ländern statt. „Gerade diese Unternehmen können ihren Standort also schnell verlagern“, sagt Baum. Außerdem würden viele israelische Techunternehmer zumindest für eine gewisse Zeit in den USA wohnen.

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Sollten diese Top-Verdiener aus dem Hightech-Sektor ihre Heimat für immer verlassen, fehlen der Branche nicht nur wertvolle Fachkräfte: Der Staatskasse ginge zusätzlich eine Menge Geld verloren. Denn die Technologiebranche beschäftigt etwa zwölf Prozent der israelischen Arbeitskräfte, die wiederum etwa 25 Prozent der Steuern zahlen.

Mit Sorge beobachtet auch Seriengründer Yoav Hoshen die Entwicklung in Israel. Seiner Einschätzung nach hält zwar viele Unternehmer noch die Liebe zu ihrer Heimat, die besondere Mischung aus warmherzigen Menschen, liberalem Geist, tollem Wetter und gutem Essen in Israel. Gleichzeitig geht nicht an ihm vorbei: „Die derzeitige Regierung verfolgt einen aggressiven Ansatz zur Änderung des politischen Systems, der den derzeitigen liberal-demokratischen Charakter des Staates Israel erheblich beeinträchtigen wird“, sagt er ntv.de.

Justizreform schadet Israel als Start-up-Nation

Wie Tausende andere Menschen geht er deswegen auf die Straße. Früher hätten sich israelische Start-up- und Techunternehmer in der Regel eher auf Innovation und Vision konzentriert. Zudem sei Israel ein so winziges Land, dass Start-ups mit ihren Produkten lieber auf die globalen Märkte abzielen und sich damit weniger auf das Heimatland fokussieren. „Ich glaube, dass sich diese Denkweise jetzt ändert. Die Technologieführer haben erkannt, dass sie eine zentrale Rolle in ihrem Land spielen und dazu beitragen sollten, dass es demokratisch und liberal bleibt“, sagt Hoshen.

So groß der potenzielle Druck sein mag, den Techfirmen ausüben können, so abhängig sind gerade Start-ups. Innovationen brauchen Geldgeber, die bereit sind, ein Risiko einzugehen und Ideen finanzieren. „Investoren suchen ein zuverlässiges, solides und demokratisches Umfeld mit einem unabhängigen Justizsystem. In diesem Sinne ist die derzeitige Justizreform für Israel als Start-up-Nation schädlich“, sagt Hoshen. Schließlich wollen Investoren sicherstellen, dass ihre Investitionen durch ein unabhängiges Justizsystem geschützt werden.

Noch ist die Reform nicht durch das Parlament. Ob Israels wichtigster Wachstumsmotor es am Ende wirklich schaffen kann, die Pläne von Netanjahu noch zu kippen, ist schwer vorherzusagen. „Leider scheinen die populistischen Botschaften des rechten Flügels viele Wähler davon überzeugt zu haben, dass die Technologie-Branche trotz der Reformen weiterhin florieren wird“, sagt Baum.

Der Beitrag ist zuerst erschienen auf ntv.de

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