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Volker Wissing und seine toxische Autobahn-Liste: Neuer Ärger mit den Grünen

Baustelle an der Autobahn A8 im bayerischen Zusmarshausen: Eine Zahl mit Brisanz

Baustelle an der Autobahn A8 im bayerischen Zusmarshausen: Eine Zahl mit Brisanz

Foto: Stefan Puchner/ picture alliance / dpa

Das Dokument ist nicht lang, keine zwei Seiten, und auch die Überschrift ist nüchtern, beinahe kryptisch, sodass nur Experten sie verstehen können: »Autobahnprojekte VB-E + FD-E (noch nicht realisiert bzw. in Bau befindlich)«

Was folgt, ist eine Auflistung, die schließt mit einer Zahl:

»144«

Doch dieser Schriftsatz, der dem SPIEGEL vorliegt, ist brisant. In ihm kulminiert ein Streit in der Ampelkoalition, der bereits seit Monaten schwelt. Der in der vergangenen Woche eigentlich bei einem Koalitionsausschuss hätte beigelegt werden sollen – vergeblich. Und der in diesem Frühjahr eskalieren könnte.

Es geht dabei um ein Gesetz zur Beschleunigung von Verkehrsprojekten, mit dem das neue »Deutschlandtempo« (Kanzler Olaf Scholz) auch bei Instandsetzung, Aus- und Neubau von Straßen, Schienen, Flughäfen und Wasserstraßen Einzug halten soll. So plant es Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), dessen Behörde die Federführung besitzt. Er will den Ausbau von Autobahnen zum öffentlichen Interesse erheben und mit dem Argument beschleunigen, er diene der öffentlichen Sicherheit. So steht es in dem Gesetzentwurf.

Doch mit beteiligt sind das Wirtschaftsministerium und das Umweltministerium mit den grünen Ministern Robert Habeck und Steffi Lemke. Die leisten gemeinsam mit der grünen Parteispitze Widerstand. Denn die Grünen fürchten sich davor, in Sachen Verkehr von ihrer Wählerschaft verlassen zu werden. Einer Wählerschaft, die zwar in großen Teilen auch mit dem Auto unterwegs ist, besonders leidenschaftlich aber den Ausbau von Bus und Bahnen im Land unterstützt.

Darüber hinaus verweisen die Grünen auf den Koalitionsvertrag und auf die darin enthaltene Einigung, dass die Schiene vor der Straße Vorrang genießen soll und Autobahnen saniert und nicht ausgebaut werden sollen.

Die Liste von den Beamten des Verkehrsministers ist ein Kompromissangebot. Hinter den Abkürzungen befinden sich zwei Kategorien von Straßenbauprojekten, nämlich solche, die vorrangigen Bedarf haben, weil sie der Engpassbeseitigung dienen (VB-E), oder deren Realisierung bereits fest disponiert sind, um einen Engpass zu beseitigen (FD-E).

Die 144 Projekte beinhalten offenbar keine Neubauten, so wie sie in dem ursprünglich im Herbst der Koalition vorgelegten Gesetzentwurf enthalten waren, unter anderem die im derzeitigen Wahlkampf heftig umstrittene Verlängerung der A100 in Berlin. Deshalb scheint Wissing geglaubt zu haben, dass die Grünen der neuen Liste zustimmen können.

Ein Irrtum. Nach SPIEGEL-Informationen machten die Grünen im Koalitionsausschuss schnell klar, dass man dieser Liste unmöglich zustimmen könne. Deshalb ging man am vergangenen Donnerstag ohne Ergebnis auseinander.

Verkehrsminister Wissing bei der Eröffnung einer Wasserstofftankstelle in Berlin: Ein Irrglaube, die Grünen überzeugen zu können

Foto: MICHELE TANTUSSI / REUTERS

Was in der Liste für den Koalitionsausschuss nicht detailliert ausgeführt wird, ist der Umfang der Erweiterungen. Da steht lediglich die Autobahn, deren Nummer und gelegentlich das Stichwort »Einzelprojekte«. Was sich dahinter verbirgt, steht im Bundesverkehrswegeplan.

Eine Liste der Zumutung für die Grünen

Bei genauem Hinschauen wird dann auch klar, warum die Grünen im Koalitionsausschuss nicht zustimmen wollten. Die Liste ist nach Regionen gegliedert, aus der hervorgeht, dass die meisten Projekte (insgesamt 60) in Nordrhein-Westfalen beschleunigt angegangen werden sollen.

  • Die A45 (»Sauerlandlinie«) soll zwischen Dortmund-Hafen bis zum Kreuz Westhofen auf 22 Kilometern sechsspurig ausgebaut werden, ebenso die A40 (»Ruhrschnellweg«) vom Kreuz Kaiserberg mit Unterbrechungen bis zum Kreuz mit der A1 bei Unna. Die A3 beim Kreuz Kaiserberg sowie für weitere 20 Kilometer bis Düsseldorf Hilden soll achtspurig erweitert werden, genauso wie die A4 bei Köln.

  • Auf vier Spuren pro Richtung soll auch die A8 bei Stuttgart verbreitert werden. Die A6 zwischen Weinsberg bis zur Landesgrenze nach Bayern soll auf der Länge von 64 Kilometern sechs Spuren erhalten.

  • Die A9 bei München würde auf acht Spuren anwachsen. Gleiches gilt für die A8 zwischen dem Kreuz München Süd und dem Inntaldreieck. Sie soll auf bis zu acht verdoppelt werden.

  • In Hessen soll die A5 am Frankfurter Westkreuz und am Westkreuz Stadt Frankfurt gar auf zehn Spuren, also fünf in beide Richtungen, erweitert werden. Gleiches gilt für die A3 zwischen Offenbach und Frankfurt auf einer Länge von fast sieben Kilometern.

  • In Niedersachsen soll unter anderem die A2 zwischen der Anschlussstelle Hannover Herrenhausen und dem Autobahndreieck Hannover West auf acht Spuren erweitert werden.

Im Bundeskanzleramt hatte man im Vorfeld des Koalitionsausschusses die Liste vorliegen. Dort gab es Hoffnungen, dass damit der Streit über das Planungsbeschleunigungsgesetz beigelegt werden könnte. Doch in SPD-Verhandlungskreisen war man bereits vor Beginn des Treffens skeptisch. Allein die schiere Zahl, 144 Projekte, sei nicht gerade dazu angetan, die Grünen zu überzeugen. Zu groß die Angst, von den Umweltverbänden im Anschluss an eine Einigung vorgeführt zu werden – so fürchteten die SPD-Strategen.

Die Genossinnen und Genossen sollten Recht behalten. Die Grünen sprachen sich gegen die Liste aus. Bei der SPD, die aufgeschlossen für dieses Kompromissangebot gewesen sein soll, hofft man nun, sich in den kommenden Wochen noch einmal über die Liste zu beugen. Man werde die Projekte so aussieben, dass die Grünen am Ende damit hoffentlich leben könnten, sagt ein führender Sozialdemokrat dem SPIEGEL. Ob die Grünen dazu bereit sind, ist allerdings unklar.

Keine Einigung vor den Berlin-Wahlen

Zustimmen werden sie sicherlich nicht bis zum 12. Februar, solange also, bis in Berlin gewählt worden ist. Das Thema Verkehr spielt dort wegen des Streits über die A100-Verlängerung und die vielen Wähler, die neue Straßen ablehnen, eine große Rolle. Im FDP-geführten Bundesverkehrsministerium will man deshalb bis zu den Berlin-Wahlen erst einmal nichts unternehmen.

Nach SPIEGEL-Informationen könnte das Thema Anfang März auf die Tagesordnung des geplanten Koalitionsausschusses gesetzt werden. Verkehrsminister Wissing will dann das Thema Beschleunigung gemeinsam mit zwei weiteren, nicht minder umstrittenen Themen abräumen: dem Klimaschutzsofortprogramm für den Verkehr sowie der Novelle des Klimaschutzgesetzes.

Die Grünen erwarten, dass die FDP deutlich mehr Vorschläge macht als bisher, um die Lücke beim Klimaschutz im Verkehr zu schließen. Erst dann wolle man die Novelle des Klimaschutzgesetzes angehen. Das Gesetz soll jedes Ministerium disziplinieren, die Klimaziele in seinem Bereich einzuhalten. Es ist 2019 in der vergangenen Großen Koalition eingeführt worden und gilt als größte Errungenschaft des schwarz-roten Bündnisses für den Klimaschutz.

Die Ampel hat in ihrem Koalitionsvertrag unter anderem auf Druck der FDP vereinbart, Veränderungen vorzunehmen. Klimaaktivisten fürchten, dass es ausgehöhlt werden könnte, damit das Verkehrsministerium weniger strenge Vorgaben für den Klimaschutz beschließen kann. Ähnliche Absichten vermuten die Grünen beim liberalen Koalitionspartner.

Wenn aber nun alles mit allem verhandelt wird, könnte es äußerst kompliziert werden. Dies hängt auch davon ab, wie Grüne und FDP bei den Landtagswahlen in Berlin am 12. Februar abschneiden. Je schlechter, desto schwieriger ein Kompromiss.