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Von der Hauptschule zu Habilitation - „Ich danke Bibi Blocksberg und meiner Mutter“

Als Kind hatte Derya Gür-Seker (41) nur eine Empfehlung für die Hauptschule. Und in Deutsch eine 4. Heute steht die Tochter türkischer Einwanderer im Hörsaal der Uni Duisburg-Essen und hält Germanistik-Vorlesungen vor Hunderten Studenten.

▶︎ Sie hat einen Doktortitel in Sprachwissenschaften und ist kurz davor, Professorin zu werden.

Vor zwei Wochen nahm sie ihre dafür nötige Habilitationsurkunde in Empfang, gemeinsam mit ihrer Mutter Muazzez Gür (63). Die legte den Grundstein für den Erfolg ihrer Tochter in der heimischen Küche.

Derya Gür-Seker als Kleinkind mit ihrer Mutter in Duisburg

Foto: privat

„Sie hat in meiner Grundschulzeit viel mit mir gelernt, obwohl sie selbst nur bis zur 4. Klasse die Schule besucht hat“, sagt Derya Gür-Seker. „Mama hat sich reingefuchst am Küchentisch.“ Vorher gab es Essen und anschließend eine Tasse Kakao.

Muazzez Gür, die mit 18 nach Deutschland kam, erinnert sich: „Ich habe beim Lernen oft deutsch-türkische Wörterbücher benutzt, um die Aufgaben für mich zu übersetzen und dann meine Tochter bei den Hausaufgaben zu unterstützen.“

Die Familie lebte in einem Duisburger Brennpunktviertel. Der Vater war Bergarbeiter, die Mutter Hausfrau.

„Die Tochter unserer Nachbarn schenkte mir einen Karton mit Kassetten von Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen. Die habe ich als kleines Mädchen rauf und runter gehört und so eine Affinität zu Sprache und Geschichten entwickelt.“

Die Kassetten von Bibi Blocksberg halfen beim Deutschlernen und machten Lust auf Sprache

Foto: privat

Trotzdem schickten die Lehrer sie nach der Grund- auf die Hauptschule. „Ich war keine 1er-Kandidatin, aber ich hatte Spaß am Lernen und wollte mehr erreichen.“ Umso enttäuschender war die Reaktion ihres Lieblingslehrers, als sie sich in der 10. Klasse zum Abiturzweig der Gesamtschule anmeldete: „Er meinte: ‚Das schaffst du sowieso nicht!‘“

Doch, sie schaffte es! Sie machte Abitur und wurde als Nachrückerin zum Germanistik-Studium zugelassen.

In den sozialen Netzwerken bedankte sich Derya Gür-Seker öffentlich bei ihrer Mutter für die Hilfe

Foto: Quelle: deryaguerseker/Twitter

„Ich spürte als Arbeiterkind oft ein Entfremdungsgefühl an der Uni, das war ein anderes Milieu. Vorher, in der Nachbarschaft, waren wir eine eingeschworene Gemeinschaft und im Gegensatz zu Gymnasiasten hatte ich auch das analytische Denken in der Hauptschule nicht gelernt.“

▶︎ Doch sie kämpfte sich bis zum Abschluss durch und machte Karriere an der Uni – inzwischen selbst verheiratet und Mutter dreier Kinder (4,6,9)! Ihre Mama unterstützte sie all die Zeit weiter: „Sie schuf mir die Freiräume, damit ich lernen konnte. Ich kann deshalb bis heute aber nicht richtig kochen.“

In Derya Gür-Sekers Seminaren und Vorlesungen sitzen heute junge Frauen und Männer aus allen sozialen Schichten. Doch: „Nach wie vor erhalten Arbeiterkinder seltener Empfehlungen fürs Gymnasium“, kritisiert sie die strukturellen Defizite des Bildungssystems. „Es müssen nicht alle studieren, aber Potenziale werden nicht erkannt und verhindert.“

Muazzez Gür ist stolz auf ihre Tochter: „Ich habe von ihr nicht nur Deutsch schreiben und lesen gelernt, sondern auch, dass Frauen und Mütter alles erreichen können, wenn sie an ihren Zielen festhalten.“ Das gilt natürlich auch für Jungs: Deryas sechsjähriger Sohn etwa will ebenfalls später hoch hinaus. Berufswunsch: Astronaut!

Foto: BILD

Dieser Artikel stammt aus BILD am SONNTAG. Das ePaper der gesamten Ausgabe gibt es hier.