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Vor Militärs und Rüstungsindustrie treibt der Kanzler seine Azubi-Ministerin an

Bislang war die Berliner Sicherheitskonferenz eine Art interner Branchentreff. Organisiert vom „Behörden Spiegel“, dem laut Eigenbeschreibung „Leitmedium des öffentlichen Dienstes“, trafen sich Militärs mit Vertretern der Rüstungsindustrie. Es gab Fachvorträge, aber kaum Geld für Geschäfte. Und im Publikum saßen neben vielen ehemaligen Generälen die Verteidigungs-Attachés aus den Berliner Botschaften auf der Suche nach Informationsfetzen für ihre diplomatischen Kabelberichte. Eine eher spezielle Veranstaltung also.

Im Sog des Krieges in der Ukraine aber hat die Konferenz eine politische Aufwertung erfahren. Und Geld für Rüstung ist nun plötzlich auch da. Und so kommen am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche rund 1500 Teilnehmer in einem Berliner Hotel im Prenzlauer Berg zusammen, darunter zwei Regierungschefs, der Nato-Generalsekretär, sechs Armeechefs und ein Dutzend Minister aus ganz Europa.

Dass neben Norwegens Premier Jonas Gahr Store auch Olaf Scholz (SPD) zum Kreis der Teilnehmer zählte, passt zum sicherheitspolitischen Kurs des Bundeskanzlers. Seit er Ende Februar, unmittelbar nach Russlands Überfall, seine „Zeitenwende“ ausrief, kümmert sich Scholz mit besonderer Intensität um die deutschen Streitkräfte und die Verteidigungspolitik.

Als Finanzminister unter seiner Kanzlervorgängerin Angela Merkel (CDU) hatte er sich noch in die Riege jener Regierungspolitiker eingereiht, die der Bundeswehr zwar rhetorisch aufgeschlossen gegenüberstanden, ihr die zur Erfüllung ihrer Aufträge notwendigen Mittel aber verweigerten. Jetzt muss Scholz sehen, wie er die in der Merkel-Ära systematisch vernachlässigte Truppe wieder auf Vordermann bringt.

Jedenfalls mag der Kanzler das nicht allein seiner Verteidigungsministerin überlassen. Zwar hatte Scholz Christine Lambrecht (SPD) vor einem Jahr selbst ausgesucht, um diverse Quotenvorgaben für sein Kabinett erfüllen zu können. Und wahrscheinlich glaubte er auch, dass die frühere Justizministerin in der Lage sein würde, das Ressort in normalen Zeiten einigermaßen geräuschlos zu führen.

Doch nun herrscht Krieg in Europa, und Lambrechts Status als Bundeswehr-Azubi entpuppt sich zunehmend als Problem. Ihr erstes Jahr im Amt ging dafür drauf, das System Bundeswehr leidlich zu verstehen. Ihr Tatendrang beschränkte sich auf einige Korrekturen des Vergaberechts, jenem Territorium also, auf dem sie sich als Juristin auskennt. Ansonsten gab es in den Zeitungen vornehmlich Geschichten über Affären wie private Familienausflüge mit dem Sohn im Dienst-Helikopter zu lesen.

Lambrechts Versäumnis

Hinzu kommt: Lambrechts aus Unsicherheit entspringender Ansatz, insgesamt möglichst wenig an den Strukturen der vom früheren Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels (SPD) „Bürokratie-Monster“ getauften Bundeswehr zu ändern, in der zu viele Häuptlinge zu wenig Indianer in einer dysfunktionalen Organisationsform anzuleiten suchen, passt nicht zu Scholzens Anspruch einer Zeitenwende. Die Bundeswehr ist für Auslandseinsätze wie Afghanistan aufgestellt, für die nun wieder gefragte Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der Nato passen die Verfahren nicht mehr. Nur einige Bruchstücke eines unter ihrer Vorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) vom Generalinspekteur entwickelten Reformkonzepts setzte Lambrecht um. Das Gros des Papiers aber gilt als kontaminiert, weil es zur Amtszeit einer CDU-Politikerin geschrieben wurde.

Sie habe bislang noch von keinem Soldaten gehört, dass es einen dringenden Reformbedarf an den Strukturen gebe, sagte Lambrecht gerade der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Offenbar spricht der Kanzler mit anderen Soldaten. „Es geht bei der Zeitenwende in der Bundeswehr um viel mehr als nur um ziemlich viel Geld“, sagte Scholz auf der Konferenz. „Von der Beschaffung bis zur Ausrüstung, von der Strategie bis in die Einsätze brauchen wir mehr Entscheidungsfreude, mehr Risikobereitschaft und effizientere Strukturen.“

Auch ein weiterer Satz aus der Kanzlerrede wurde von manchem Zuhörer auf Lambrecht bezogen. „Beeilt euch zu handeln, ehe es zu spät ist zu bereuen“, zitierte Scholz den Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansens. Obwohl Lambrecht der dramatische Munitionsmangel in den Streitkräften hätte bekannt sein müssen, versäumte es die Ministerin, Mittel dafür entweder im 100-Milliarden-Euro-Sonderschuldentopf zu priorisieren oder alternativ in den Haushaltsverhandlungen mehr Geld für den Kernetat auszuhandeln.

Nachdem Scholz nun am Montagabend zu einem Munitionsgipfel im Kanzleramt geladen und die Rüstungsindustrie dort laut Lambrecht angeboten hatte, „erhebliche Mengen dringend benötigter Munition ad hoc liefern oder aber zumindest in kurzer bis mittlerer Frist herstellen zu können“, schrieb die Verteidigungsministerin laut „Spiegel“ einen Bettelbrief an Finanzminister Christian Lindner (FDP). Sie brauche unmittelbar und „in signifikantem Umfang“ Geld, heißt es darin, um dieses Angebot annehmen zu können.

Warum sie in den neun Monaten zuvor nicht selbst das Gespräch mit der Industrie suchte, die benötigten Mittel im gerade abgeschlossenen Haushaltsverfahren nicht rechtzeitig anmeldete und stattdessen jetzt den Finanzminister öffentlich unter Druck zu setzen versucht, bleibt Lambrechts Geheimnis. In Reihen der Ampel-Koalition gilt sie mittlerweile als Scholz‘ größter Sorgenfall im Kabinett. Es wird zunehmend unverbrämt die Frage gestellt, warum eine Ministerin, die sich der Unterstützung des Kanzlers erfreut und mit so viel Geld wie noch keine Amtsvorgängerin ausgestattet worden ist, vornehmlich Negativschlagzeilen produziert.

Auf Dauer wird es jedenfalls kaum reichen, sich hinter Scholz zu verstecken. Auch auf der Berliner Sicherheitskonferenz wies die Ministerin gleich zu Beginn ihrer Rede darauf hin, dass der wichtige Part später komme, wenn der Kanzler seinen Auftritt habe. Der Rest war eine Zusammenfassung der bisherigen Entscheidungen des Regierungschefs seit Kriegsausbruch: die Waffenlieferungen an die Ukraine, die Zusagen an die Nato beim Gipfel in Madrid, die Initiative für eine europäische Flugabwehr und natürlich der 100 Milliarden Euro schwere Schuldenfonds zur Ausrüstung der Bundeswehr.

Als eigener Beitrag blieb eigentlich nur die Ankündigung, dass Lambrecht in der unter Federführung des Auswärtigen Amtes in Ausarbeitung befindlichen Nationalen Sicherheitsstrategie zwei Punkte unterbringen will: die Verankerung des Zwei-Prozent-Ausgabenziels für Verteidigung und weniger restriktive Exportrichtlinien für Rüstungsgüter, um Kooperationen mit anderen Europäern zu ermöglichen. Bei beiden Punkten wird sie allerdings auf die Unterstützung des Kanzleramtes angewiesen sein, um sich damit gegen die eloquentere Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) durchzusetzen, die beides eher skeptisch sieht.

Die substanziellen Nachrichten kamen dagegen erneut von Scholz selbst. Bereits am Dienstag hatte der Regierungschef dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zugesichert, dass er mit weiteren Lieferungen von Gepard-Flugabwehrkanonenpanzern rechnen könne. Und bei seinem Auftritt mit dem norwegischen Premier Store auf der Sicherheitskonferenz kündigte Scholz eine gemeinsame Initiative an: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg soll nach dem Willen von Deutschland und Norwegen gebeten werden, Gas-Pipelines und Internetleitungen auf dem Meeresboden von Nord- und Ostsee vor Angriffen zu schützen – eine Reaktion auf die jüngsten Anschläge auf die beiden Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee.

Der Bundeswehr versprach Scholz, dass noch im laufenden Jahr erste Aufträge für Kampfjets, Panzer und weiteres Material aus dem 100-Milliarden-Euro-Schuldentopf vergeben würden: „Die ersten Lieferverträge wollen wir noch in diesem Jahr schließen über den Kauf der F-35, der Nachrüstung des Schützenpanzers Puma und die Beschaffung von Überschnee-Fahrzeugen.“ Der Kanzler macht Druck, Lambrecht darf das als Handlungsauftrag verstehen.

Scholz habe „erneut gute, klare Worte zur sicherheitspolitischen Rolle Deutschlands“ gefunden, lobte Oberst André Wüstner, der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes. Die Rede sei nach seinem Eindruck bei den internationalen Besuchern der Konferenz gut angekommen: „Sie unterstreicht, dass es gemeinsam mit unseren Partnern mehr denn je um Abschreckung und Wehrhaftigkeit geht.“

Allerdings bestehe Abschreckung nicht nur aus einem „Wollen“, sondern auch aus einem „Können“, so Wüstner: „Und da sollte mit Blick auf die Bundeswehr weiter an effizienteren Strukturen und einer Beschleunigung von Beschaffungsverfahren gearbeitet werden.“ Auch der Personalmangel müsse angegangen werden, es brauche eine „Attraktivitätsagenda, die ihren Namen verdient“. Das sind Aufgaben, die nicht im Kanzleramt erledigt werden. „Das Verteidigungsministerium“, so Wüstner, „wird sich daran messen lassen müssen“.