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„Wir brauchen mehr Entscheidungen und weniger Waschlappen in der Politik“

Die Flüchtlingskrise ab 2015, die Coronavirus-Pandemie, nun die Auswirkungen der Energiekrise: Als Sozial-, Gesundheits- und Arbeitssenatorin ist Melanie Leonhard seit nunmehr sieben Jahren als Krisenmanagerin im Amt. In ihrem Büro an der Mundsburg wurde gerade eben noch die neueste Coronavirus-Eindämmungsverordnung erarbeitet, die an diesem Wochenende in Kraft tritt und die Hamburg durch Herbst und Winter führen soll. Doch die Pandemie ist längst nicht mehr das größte Problem der Sozialdemokratin.

Senatorin Melanie Leonhard in ihrem Büro

Die Hamburger Gesundheits-, Arbeits und Sozialsenatorin Melanie Leonhard in ihrem Büro

Quelle: Bertold Fabricius

WELT AM SONNTAG: US-Präsident Joe Biden und auch europäische Regierungen erklären die Pandemie für beendet, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) übt sich noch im Warnen und Mahnen mit Anflügen von Alarmismus. Wo ordnen Sie sich da ein?

Melanie Leonhard: In der Mitte mit einer leichten Tendenz zu Biden. Wir haben das Leben mit dem Virus, begleitet von nur noch sehr geringen Einschränkungen, im Sommer als Gesellschaft eingeübt. Nun werden die Corona-Zahlen im Herbst wieder steigen, das ist zu erwarten. Nun müssen wir zeigen, dass das auch in dieser Situation geht. Ich empfange aber derzeit keine Signale, die mich beunruhigen würden.

WELT AM SONNTAG: Seit Beginn der Corona-Zeit haben sich die Parameter für die Beurteilung der Lage immer mal wieder verschoben. Was wird für Sie der wichtigste Gradmesser sein, um Maßnahmen danach zu justieren?

Leonhard: Zum einen müssen wir die Krankheitslast des vorherrschenden Virustyps beobachten. Derzeit gibt es zwar Ansteckungen, aber wenige schwere Erkrankungen. Ändert sich das, müssen wir sehen, was dann zu tun ist. Damit korrespondiert dann zweitens auch die Beanspruchung des Gesundheitswesens. Momentan ist die Lage dort gut beherrschbar.

WELT AM SONNTAG: Der Senat hat nun eine Eindämmungsverordnung beschlossen, die an diesem Wochenende in Kraft tritt und die bis in den April hinein gültig sein soll. Hatten Sie keine Lust mehr auf ständig neue Abstimmungen?

Leonhard: Bisher hat das Gesetz uns verpflichtet, alle vier Wochen neu zu entscheiden. Nun hat sich diese Bestimmung geändert, und wir wollen den Menschen auch das Signal der längerfristigen Verlässlichkeit und Planbarkeit senden: Auf diese Regelungen kann man sich für die kommenden Monate einstellen. Wenn Corona aber in stärkerer Form wieder zur Belastung wird, müssen wir auch wieder aktiv werden, dann könnte auch die Maskentragepflicht in Innenräumen bei Großveranstaltungen wieder ein Thema werden. Derzeit gibt es dafür aber keinen Grund.

WELT AM SONNTAG: Nochmal Lauterbach: Er argumentiert häufig mit Zahlen von Corona-Toten, die wir nicht hinnehmen dürften. Der UKE-Intensivchef Stefan Kluge hält dagegen, es würde seit Omikron kaum noch Todesfälle durch das Virus geben. Wie sehen Sie die Debatte?

Leonhard: Wir haben alle noch die Situationen der vergangenen beiden Winter im Kopf, als es sehr hohe Todeszahlen gab und schwerkranke Menschen aus Süddeutschland nach Hamburg gebracht wurden, weil die Kliniken dort überfüllt waren. Doch jetzt haben wir eine sehr hohe Durchimpfungsrate in der Bevölkerung, sehr viele Genesene, das Virus hat sich verändert. Ich würde derzeit nicht mit der Sorge vor vielen Corona-Toten argumentieren, was nicht heißt, dass besonders gefährdete Gruppen, etwa Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen, nicht geschützt werden müssen.

WELT AM SONNTAG: Es bleiben noch Vorgaben in der neuen Verordnung, etwa zur Maskentragepflicht. Wer im Zug von Kopenhagen nach Hamburg fährt, erlebt beim Grenzübertritt, dass Reisende nach zweieinhalb Stunden maskenloser Fahrt dann die Maske aufsetzen. Lustig oder absurd?

Leonhard: Es gibt solche Situationen, klar. Aber Deutschland bleibt ein großes Land mit viel Transitverkehr, und in Bussen und Bahnen ist die Ansteckungsgefahr besonders hoch. Für mich ist diese Maßnahme bei unserer Lage weiter sinnvoll, auch wenn andere Länder das nicht mehr tun.

WELT AM SONNTAG: Vier Ihrer Länderkollegen in den Gesundheitsministerien – in Baden-Württemberg, Hessen, Bayern und Schleswig-Holstein – fordern in einem Brief an die Bundesregierung, die Isolationspflicht für Infizierte aufzuheben oder auf wenige Berufe zu beschränken. Warum haben Sie nicht unterschrieben?

Leonhard: Das wurde unter den Ländern umfangreich besprochen. Solche Änderungen sollten sich nach meiner Meinung nicht nach politischem Kalkül richten, sondern danach, was fachlich sinnvoll ist. Deswegen haben wir vereinbart, dass wir zunächst eine Expertise einholen und mit dem Robert-Koch-Institut darüber sprechen. Was zu frühe und unabgestimmte Vorstöße etwa aus Bayern anrichten können, haben wir im letzten Herbst und Winter gesehen. Das Gespräch mit dem RKI steht an, und wenn die Infektionsexperten sagen, dass Lockerungen der Isolationspflicht möglich sind, dann machen wir das. Wir wollen ja nicht Menschen isolieren, sondern das Infektionsgeschehen bremsen.

WELT AM SONNTAG: Geblieben ist auch die Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen und in Pflegeeinrichtungen, hier muss der Booster-Status nachgewiesen werden. Halten Sie das noch für sinnvoll, obwohl doch die Frage der Ansteckungsgefahr von diesem Impfstatus abzukoppeln ist? Pflegeverbände haben Sie dazu aufgerufen, die Abfrage zu stoppen, sie sei „völlig aus der Zeit gefallen“.

Leonhard: Das Gesetz gilt, und es geht nur darum, einmalig den Impfstatus nachzuweisen. Die allermeisten der Beschäftigten in den Einrichtungen sind geimpft. In dem Wissen um die hohen Sterberaten im Winter 20020/2021 in den Pflegestationen – ausgelöst durch das Coronavirus – sollten wir aber noch einmal darauf achten, dass hier der höchstmögliche Schutz gewährleistet bleibt. Übrigens sind die Personalausfälle durch Infektionen deutlich geringer, wenn die Beschäftigten geimpft sind. Es liegt also auch im Interesse der Betreiber, das nachzuhalten.

WELT AM SONNTAG: In Ihrer Behörde sind viele Bereiche angesiedelt, die auch noch unter ganz anderen Rahmenbedingungen leiden. Viele Kliniken sagen, dass sie die Millionen-Mehrkosten durch die gestiegenen Energiepreise nicht werden stemmen können. Gleiches gilt für Pflege- und Senioreneinrichtungen, wo die Heizungen auch nicht einfach runtergeregelt werden können. Wie kann geholfen werden?

Leonhard: Die Sorgen sind berechtigt, schon zwei Jahre Corona haben tiefe Spuren in der Krankenhausfinanzierung hinterlassen. Mit der Energieproblematik stehen nun aber Summen im Raum, die die kommunalen Haushalte niemals werden stemmen können. Hier muss der Bund ein Konzept vorlegen, um diese Kosten passgenau abzufedern, und zwar über das Leistungsrecht. In der Pflege sprechen wir über einen beinahe vollständig privatisierten Bereich, mit Direktzahlungen kann deswegen nicht eingegriffen werden. Und die Pflegebedürftigen und deren Angehörige kann man auch nicht noch weiter belasten.

WELT AM SONNTAG: Und schließlich sind Sie als Sozialsenatorin auch noch für den gesellschaftlichen Ausgleich zuständig. Die Essensausgaben der Tafeln werden überlaufen, viele Menschen leben in großer Sorge vor den kommenden Monaten. Wie empfinden Sie diese Lage?

Leonhard: Das ist eine Situation, die sehr, sehr schwierig ist – auch, weil ein Ende nicht absehbar ist. Politisch wurde in diversen Bereichen mit Leistungserweiterungen – etwa bei den Regelsätzen, beim Kinder- und Wohngeld – reagiert. Aber wir werden auf Dauer die Verwerfungen gerade auf dem Strom- und Gasmarkt nicht durch Sozialleistungen gegenfinanzieren können, das überfordert sonst eine immer älter werdende Gesellschaft sehr schnell.

Das ist keine Glaskugel, sondern Dreisatz. Deswegen muss in einem ersten Schritt die Abkopplung des Strompreises vom Gaspreis gelingen. Der Strompreis ist ja hoch, obwohl es keine Verknappung gibt. In einem zweiten Schritt muss aber auch der Gaspreis angesehen werden: Kann die Preisbildung, wie sie derzeit stattfindet, verändert werden? Spanien hat hier Schritte unternommen.

WELT AM SONNTAG: Das wären pragmatische Schritte, wie jetzt auch beim Gaspreisdeckel. Aus Teilen der Politik gab es zuletzt aber vor allem viele gut gemeinte Spar- und Verhaltensvorschläge, etwa zum richtigen Duschen mit Waschlappen.

Leonhard: Von mir haben Sie die nicht gehört. Natürlich schadet es nicht, über private Einsparmöglichkeiten informiert zu sein. Aber wer ohnehin wenig Geld zur Verfügung hat, weiß sehr genau, wo man sparen kann. Diese Menschen brauchen unsere Spartipps nicht. Menschen, die schon sehr wenig haben oder deren Abstiegsängste in der Mittelschicht groß sind, erwarten von der Politik doch etwas anderes. Nämlich, wie eben angesprochen, die Lösung der strukturellen Probleme, die durch die neue Situation entstanden sind oder sichtbar werden.

WELT AM SONNTAG: Sie sind auch SPD-Landesvorsitzende. In Schweden und in Italien hat es bei Wahlen einen Rechtsruck gegeben. Steht Deutschland das auch bevor, wenn die Politik keine anderen Lösungen anbieten kann?

Leonhard: Italien ist ein wichtiger europäischer Partner, was dort geschieht, geht auch uns etwas an. Nun gibt es für eine solche Wahl viele unterschiedliche Beweg- und Hintergründe. Die beste Prävention, die wir in Deutschland gegen solche Tendenzen vornehmen können, ist die richtige Schwerpunktsetzung in der Politik. Die Bürgerinnen und Bürger müssen Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und die Handlungswilligkeit des Staates haben. Es geht nicht darum, dass alle immer mit allem zufrieden sind, das wäre in einer Demokratie auch nicht denkbar. Wir brauchen jetzt mehr Entscheidungen und weniger Waschlappen in der Politik.

Vita: Bei ihrer Ernennung zur Senatorin durch den damaligen Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) war Melanie Leonhard noch weitgehend unbekannt – doch das hat sich schnell deutlich geändert. Die heute 45-Jährige promovierte Historikerin musste sich seitdem mehrfach bei der Krisenbewältigung bewähren. Seit 2018 fungiert Leonhard zudem als Landeschefin der SPD. Die Mutter eines Sohnes lebt mit ihrer Familie in Hamburgs ländlichem Bezirk Harburg und postet auf Facebook gern Naturaufnahmen.

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