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WM-Debakel im Schnellcheck: Deutschlands Fußball weint hemmungslos

Wahnsinn, selten war das Wort mehr angebracht als an diesem Donnerstag. Wie schon vor vier Jahren in Russland scheitert die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in der Vorrunde. Sie scheitert an Pfosten, Latte, einem überragenden Keylor Navas - und der spanischen Blamage im Parallelspiel.

Was ist im Al-Bayt-Stadion passiert?

Costa Rica spielt bis zu diesem Donnerstagabend, 21.35 Uhr deutscher Zeit, 215 fürchterliche WM-Minuten (die aberwitzigen Nachspielzeiten nicht eingerechnet), dann gelingt die erstaunlichste Transformation der jüngeren Fußballgeschichte. Eine Mannschaft, für dessen unfassbare Harmlosigkeit es einfach kein passendes Wort gibt, das gegen den wuchernden Riesen Deutschland wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt, zwingt den Top-Favoriten plötzlich in einen offenen Schlagabtausch. Ein Missverständnis von David Raum und Antonio Rüdiger reicht, um den Mittelamerikaner aus ihrem Wüstenschlaf zu wecken - am Ende gewinnt Deutschland das Spiel zwar doch noch irgendwie mit 4:2 - muss aber tatenlos mit ansehen, wie sich Spanien im Parallelspiel gegen Japan blamiert (1:2). Bedeutet: Raus, raus, raus. Wie schon vor vier Jahren scheitert Deutschland in der Vorrunde!

Hach, was waren das für aufgeregte Tage! Fußball-Gigant Deutschland zitterte von Fußball-Zwerg Costa Rica, der hatte schließlich Japan geschlagen. Mit einer Chance, mit einem Tor! Verrückt. Und dann waren da noch die Spanier, auch vor denen hatte der Fußball-Gigant gezittert, weil aus dem Land der einstigen Tiki-Taka-Helden Verschwörungstheorien herüberwaberten, dass Tabellenplatz zwei für den weiteren Verlauf des Turniers der bessere sein könnte. Ja, und nun? Deutschlands Fußball weint, Deutschlands Fußballer weinen. Deutschlands Fußball liegt in Trümmern. Feuer frei. Es werden unruhige Zeiten.

Was bedeutet das nun?

Im deutschen Fußball könnten große Karrieren mit diesem Abend zu Ende gehen. Was ist mit Manuel Neuer? Was ist mit İlkay Gündoğan, der schon einmal überredet werden musste, weiterzumachen. Und was ist mit Thomas Müller? In der ARD vermied er zwar einen Rücktritt, aber in einer emotionalen Rede an die Nation bedankte er sich für den gemeinsamen Weg. Noch wolle er überlegen, aber das klang nach Abschiedsrede!

Wie hat sich das deutsche Team geschlagen?

In der 10. Minute eines wirren Spiels sieht es noch so aus, als würde Deutschland, das nach dem 1:1 gegen Spanien schon einen gefühlten vorzeitigen Achtelfinal-Einzug gefeiert hatte, die Sache aus eigener Kraft zu lösen versuchen. 3:0 hätte es stehen können, 1:0 stand es durch Serge Gnabrys ersten Treffer bei dieser WM. Der Profi des FC Bayern, der bisher so glücklos agierte, köpfte ein, holte sich den Ball mit wild entschlossenem Blick aus dem Netz und machte klar: Wir brauchen Tore und wir werden sie schießen. Auf Spanien wollte man sich nicht verlassen. Das DFB-Team spielte gut, Spanien ging im Parallelspiel ebenso in Führung, es lief alles nach Plan.

Deutschland startete Angriff auf Angriff aufs Tor eines völlig überforderten Costa Rica, doch es fiel kein weiteres Tor. Weil der Pfosten im Weg stand, weil das Tor falsch stand, weil immer ein Bein eines Costa Ricaners den Weg ins Glück versperrte. Eben weil dem deutschen Team wieder, wie schon im ersten Spiel, die Effizienz fehlte.

Und dann war da diese 42. Minute, als man einem völlig chancenlosen Gegner, der in den ersten beiden Spielen einen (!) Torschuss zustande brachte, der das deutsche Tor nur aus der Ferne gesehen hatte, neuen Glauben in die Herzen tölpelte: David Raum und Antonio Rüdiger luden Keysher Fuller zum zweiten Torschuss des Turniers ein, Manuel Neuer rettete sensationell. In der Folge setzte die Fahrigkeit ein, mit der die deutsche Mannschaft schon gegen Japan trotz 78 Prozent Ballbesitz das Spiel aus der Hand gegeben hatte. Die Konsequenz: Auf einmal führte der krasse Außenseiter, der deutsche Elan war völlig dahin. Am Ende drehte das Team das Spiel, wenigstens das. Es war aber zu wenig, schon wieder. Thomas Müller, der während seiner Stunde Spielzeit wenig Konkretes zum Spiel beitragen konnte, sagte nach dem Desaster, man habe es "nicht schlecht gemacht". Nicht schlecht aber ist zu wenig bei einer Weltmeisterschaft.

Die Schlüsselszene:

Hansi Flick war sauer und enttäuscht, das habe er seiner Mannschaft schon in der Halbzeit gesagt, verriet der sichtlich unter Schock stehende Bundestrainer in der ARD. Mächtig vorlegen habe man wollen, 3,4 Tore schon in der ersten Halbzeit schießen. Die Chancen waren da, doch "durch Leichtfertigkeiten haben wir den Gegner ins Spiel gebracht". Was Flick meinte, kulminierte in der 35. Minute: 1:0 führte das DFB-Team, 4:0 hätte sie führen können. Sie waren bemüht, hatten auch Pech, Jamal Musiala dribbelte sich von links nach rechts und zurück durch den Strafraum und scheiterte jedes Mal.

Doch es war okay, wie Flick sagte. Doch ein langer, verzweifelter Schlag Costa Ricas, der wie ein Stein vom Himmel über dem Al Bayt zwischen David Raum und Antonio Rüdiger runter fiel, reichte, um die zarte deutsche Selbstverständlichkeit zu zertrümmern. Raum bugsierte den Ball irgendwie in den Lauf von Keysher Fuller, Antonio Rüdiger wollte zu lässig klären und machte alles nur noch schlimmer. Alleine Manuel Neuers Glanztat verhinderte da noch das 1:1, doch der verpasste Treffer zeigte Wirkung: Wenige Augenblicke später säbelte Innenverteidiger Niklas Süle an einer Hereingabe vorbei, die deutsche Defensive wackelte wieder arg. Die Souveränität kehrte nicht mehr zurück. Mit dem bekannten, desaströsen Ergebnis.

Teams & Tore

Tore: 0:1 Gnabry (10.), 1:1 Y. Tejeda (58.), 2:1 C. Borges (70.), 2:2 Havertz (73.), 2:3 Havertz (85.), 2:4 Füllkrug (89., nach Videobeweis)
Costa Rica: K. Navas/Paris Saint-Germain (35 Jahre/109 Länderspiele/0 Tore) - K. Fuller/CS Herediano (25/32/3) ab 74. Bennette/AFC Sunderland (18/10/2), O. Duarte/Al-Wehda (33/73/4), K. Waston/Deportivo Saprissa (34/65/9), J. Vargas/Millonarios FC (27/13/1), C. Borges/LD Alajuelense (34/155/25) - Y. Tejeda/CS Herediano (30/74/1) ab 90.+3 R. Wilson/AD Municipal Grecia (20/4/0), B. Oviedo/Real Salt Lake (32/78/2) ab 90.+3 Contreras/CS Herediano (22/11/2) - B. Aguilera/AD Guanacasteca (19/8/0), ab. 46. Y. Salas/Deportivo Saprissa (26/6/0), J. Campbell/Club Leon (30/112/23) - Johan Venegas/LD Alajuelense (34/81/11) ab 74. Matarrita/FC Cincinnatti (28/53/3). - Trainer: Suarez.
Deutschland: Neuer/Bayern München (36 Jahre/117 Länderspiele/0 Tore) - Kimmich/Bayern München (27/74/5), Süle/Borussia Dortmund (27/45/1) ab 90.+4 Ginter/SC Freiburg (28/48/2), Rüdiger/Real Madrid (29/57/2), Raum/RB Leipzig (24/15/0) ab 67. Minute Götze (Eintracht Frankfurt/30/65/17) - Gündogan/Manchester City (32/66/17) ab 55. Füllkrug/Werder Bremen (29/4/2) - Sane/Bayern München (26/50/11), Goretzka/Bayern München (27/48/14) ab. 46. Klostermann/RB Leipzig (26/21/0), Musiala/Bayern München (19/20/1), Gnabry/Bayern München (27/39/21) - Müller/Bayern München (33/121/44) ab 66. Minute Havertz/FC Chelsea (23/33/10). - Trainer: Flick.
Schiedsrichterin: Stephanie Frappart (Frankreich)
Zuschauer: 67.054 (in Al-Khor)

Wie war es im Stadion?

Vielleicht hat es auch den paar Dutzend Fans gelegen, denen Katar die Einreise zur Wüsten-Weltmeisterschaft verkomplizierte. "Adler Bretten" war da, "Bad Waldsee", "Ratingen" auch und natürlich "Air Bäron". Doch als nach dem 1:0 durch Serge Gnabry die Deutschland-Allesfahrer ihr "steht auf, wenn ihr Deutsche seid" anstimmen, steht niemand auf. Denn kaum einer ist hier aus dem Einzugsgebiet des DFB. Das Al-Bayt ist wieder einmal ein Stimmungsgrab. Auch die Fans von Costa Rica zeichnen sich nicht durch ihre Gesänge aus. So bleibt es bei müden "Deutschland, Deutschland"-Rufen. Als das Spiel den Zuschauer den letzten Sauerstoff raubt, alle langsam wegdämmern, startet jemand die Welle. Nur nicht einschlafen, die Fahrt nach Doha wird lang genug. Draußen fährt ein Golfwagen vorbei. Eine Deutschland-Fahne weht im Wind. 23 Grad, 73 % Luftfeuchtigkeit. Das nächste Spiel ist nicht im Al-Bayt. "Deutschland, Deutschland."