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Wolfgang Große Entrup: „Der industrielle Kern von Deutschland ist in Gefahr“

Die chemische Industrie in Deutschland ist energieintensiv und somit besonders betroffen von steigenden Gaspreisen. Im Interview warnt Verbandschef Wolfgang Große Entrup vor der Konkurrenz im Ausland und zu ambitionierten Energiesparzielen

Die Chemieindustrie blickt angesichts der Energiekrise in eine düstere Zukunft. Wie warm müssen sich Unternehmen im Winter anziehen?

WOLFGANG GROßE ENTRUP: Das hängt vor allem von den Temperaturen in den kommenden Wochen ab. Es weiß leider keiner, was für ein Winter auf uns zukommt. Produktionsplanung nach Wetter-App, wer hätte das jemals für möglich gehalten? Für ein Unternehmen schlichtweg eine Katastrophe. Wir blicken daher extrem kritisch und mit tiefster Sorge in die Zukunft. Die in die Höhe geschossenen Energiepreise treffen unsere Branche brutal. Die Lieferverträge vieler Mittelständler laufen bald aus. Die neuen Konditionen werden etliche Unternehmen vor unlösbare Probleme stellen. Viele Mittelständler stehen mit dem Rücken zur Wand. Gerade im internationalen Wettbewerb können viele die Preise nicht mehr weitergeben und planen deswegen Schritt für Schritt bereits, ihre Produktion einzustellen.

Welche Unternehmen haben es besonders schwer?

Gerade Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, haben im Moment brutale Probleme. Die Belastungen, die deutsche Unternehmen gerade stemmen müssen, gibt es in keinem anderen Industriesektor der Welt. Die von Wirtschaftsminister Habeck geplante Umlage, die auf unseren Gaspreis noch oben draufkommt, entspricht dem Gaspreis in den USA. Deutsche Unternehmen geraten daher auf dem Weltmarkt ins totale Abseits.

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, könnten Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern.

Das findet ja bereits statt, weil bestimmt Produkte hierzulande nicht mehr wirtschaftlich hergestellt werden können. Stichwort Ammoniak. Und das Entscheidende ist: Ammoniak ist nicht nur ein Düngemittel, sondern eine Grund-Chemikalie, die in vielen Bereichen zum Einsatz kommt - von der Automobillackproduktion bis hin zur Pharmaindustrie. Was für große international operierende Unternehmen möglich ist, ist aber für viele regional verankerte Mittelständler ohne Produktionsstätten im Ausland keine Option.

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Was bedeutet es für die Branche, wenn Unternehmen abwandern?

Wenn Unternehmen ihre Produktion herunterfahren oder ganz stilllegen, brechen im Dominoeffekt ganze Wertschöpfungsketten zusammen. Das wäre eine Katastrophe für den ganzen Wirtschaftsstandort Deutschland. Dann droht nicht nur eine Rezession. Im Moment heulen die Sirenen sehr laut. Wir sind nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt, von einem der größten Industriestandorte der Welt zu einem Industriemuseum zu werden. Wir müssen jetzt mit aller Kraft daran arbeiten, die Energiepreise zu senken und die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu erhalten. Produktion, die jetzt stillgelegt wird und die wir ans Ausland verlieren, kommt wahrscheinlich nicht wieder zurück.

Wie ernst ist die Gefahr einer Deindustrialisierung?

Sehr ernst. Was uns aus den Krisen der vergangenen Jahre geführt hat, war eben der industrielle Kern in Deutschland, war unsere Wertschöpfung. Das droht wegzubrechen. Sollte es so weit kommen, droht sich die Lage in Deutschland dramatisch zu verschlechtern.

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Einige Unternehmen stellen ihre Produktion wegen der hohen Gaspreise wieder auf Öl oder Kohle um. Ist das mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein?

Der Effekt wird nicht besonders groß sein, da die Mehrheit der Unternehmen dazu kurzfristig nicht in der Lage ist. Die Umstellung auf Öl ist mit gewaltigen Anstrengungen und Investitionen verbunden. Einige Unternehmen sind längst so weit, bekommen aber zum Beispiel nicht die Genehmigung für einen Tank, in dem das Öl gelagert werden kann - ihnen wird es nicht gerade leicht gemacht.

Eigentlich will Deutschland weg von Kohle, Öl und Atomstrom. Hätte die Chemieindustrie nicht schon viel früher auf erneuerbare Energien umstellen müssen?

Wir kämpfen seit Jahren dafür, dass so viel regenerative Energie in den Markt kommt wie möglich, weil wir diese für die Transformation unserer Branche hin zur Klimaneutralität benötigen. Wir bräuchten dafür allerdings 8000 Kilometer Leitungen durch Deutschland, die nicht gelegt werden, weil die Bevölkerung das nicht möchte. Wir bräuchten unendlich viele Windkraftanlagen, die dort, wo sie gebaut werden sollen, auf erhebliche Skepsis stoßen. Ja, wir sind, was den Ausbau angeht, nicht da, wo wir sein könnten. Auf keinen Fall sind wir da, wo wir sein müssten. Aber Sie müssen auch die Relationen sehen: Wir brauchen alleine als Chemieindustrie für unsere Transformation den gesamten Strombedarf der Bundesrepublik heute. Den aber als Grünstrom. Und wir brauchen ihn an all unseren Standorten. Also nicht nur im Norden, wo der Wind weht, sondern aufs ganze Land verteilt.

Wie viel Gas kann die Branche noch einsparen?

Wir nutzen Gas nicht nur als Energieträger, sondern auch als Rohstoff. Als Rohstoff ist Gas kurzfristig gar nicht zu ersetzen und auf energetischer Seite versuchen wir alles, was möglich ist. In den letzten Monaten hat die Chemieindustrie ihren Gasverbrauch um 15 bis 20 Prozent reduziert. Wir sind schon so effizient wie nie zuvor und wollen gar nicht noch mehr Gas einsparen, denn das geht nur, wenn wir die Produktion noch weiter drosseln. 

Ein Gas-Lieferstopp würde den BASF-Standort in Ludwigshafen unter Druck setzen.

Ein Lieferstopp von russischem Gas würde die Chemiebranche besonders schwer treffen und hätte weitreichende Folgen. Denn kaum eine Industrie kommt ohne chemische Vorprodukte aus

Was kostet die geplante Gasumlage die Chemieindustrie?

Wir gehen insgesamt von einer Belastung von vier Milliarden Euro pro Jahr aus. Zusätzlich zu den schon astronomischen Gaspreisen. Wir sagen daher ganz klar: Die Gasumlage muss vom Bundeshaushalt übernommen werden. Die Regierung muss jetzt aktiv einschreiten und die Industriestruktur sichern. Lieber jetzt gezielt Geld in die Hand nehmen und die Industrie am Leben erhalten, als in einem halben Jahr großflächig die Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Dabei ist eines klar: Dies erfordert aus unserer Sicht auch eine temporäre Aussetzung der Schuldenbremse. Es geht jetzt schlichtweg um die Zukunft unserer Gesellschaft. 

Was muss darüber hinaus noch getan werden?

Wir müssen jetzt schnellstmöglich alle Energieträger ans Netz bringen oder weiterbetreiben, um Gas einzusparen und den Strompreis zu drücken. Dazu gehören erneuerbare Energien genauso wie Kohle- und Kernkraft. Und für die Zukunft heißt das, dass wir in Energiefragen nicht weiter nur auf die Solidarität der Welt setzen dürfen, sondern auch eigenverantwortlich unseren eigenen Beitrag leisten müssen.

Dieser Beitrag ist zuerst auf ntv.de erschienen. 

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