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Alles ausser Liebe (1/5): «Die Angst vor Gewalt gibt es auch heute noch»

Alles ausser Liebe (1/5)«Die Angst vor Gewalt gibt es auch heute noch»

Was bedeutet Community für queere Menschen? Ernst Ostertag (92, «Der Kreis») und Florian Vock (32, «Milchjugend») im Generationengespräch.

Tauschten sich im Tamedia-Podcast «Apropos» über Damals und Heute in der queeren Bewegung aus: Ernst Ostertag (l.) und Florian Vock.

Tauschten sich im Tamedia-Podcast «Apropos» über Damals und Heute in der queeren Bewegung aus: Ernst Ostertag (l.) und Florian Vock.

Foto: Urs Jaudas

Florian Vock, wer ist Ernst Ostertag für Sie?

Florian: Ernst ist für mich ein historisches Ereignis. An ihm habe ich als Jugendlicher zum ersten Mal erkannt: Ich kann als schwuler Mann total glücklich alt werden. Ich kann mit 60 noch in den Ausgang, wenn es mir gefällt. Ich habe ganz viele Möglichkeiten. Das war und ist für mich persönlich unglaublich wichtig. Und dann ist Ernst für mich auch einfach ein lieber Freund, der immer eine gute Geschichte zu erzählen hat.

Ernst Ostertag, wer ist Florian Vock für Sie?

Ernst: Florian ist für mich eine Art Reinkarnation des Leiters von «Der Kreis», der ehemaligen Zürcher Schwulenorganisation. Ein Mensch, der sich restlos einsetzt für die queere Community und zugleich eine Ausstrahlung und Ausdrucksfähigkeit hat wie kaum jemand anderes. Es ist für mich als inzwischen alter Mann phänomenal, zu erleben, dass es solche Menschen immer wieder neu gibt.

«Ich dachte, ich sei der Einzige. Ich stellte mich darauf ein, dass ich alleine durch die Welt gehe.»

Ernst Ostertag

Ernst Ostertag, Sie sind 1930 geboren. Wie sind Ihre Erinnerungen an an die Jugend als schwuler Mann?

Ernst: Ich habe mit 12 Jahren gemerkt, dass ich eindeutig schwul bin. 1942, mitten im Krieg. Meine Schulkameraden waren auf einmal so blöd, erzählten nur noch von ihren «Schätzli» und bekamen dabei so eine komische Stimme und einen merkwürdigen Blick. Irgendwann habe ich gemerkt: Moment mal, wenn ich von den Typen reden würde, die meine Augen suchen, dann wäre meine Stimme auch so belegt. Ich hatte also diese erotische Anziehung zu Männern. Aber ich hatte keinen Namen dafür, ich hatte nichts. Über Sexualität hat damals niemand geredet und über Homosexualität sowieso nicht. Ich wusste nur, das ist meine Art und zugleich mein Geheimnis. Ich dachte, ich sei der Einzige. Ich stellte mich darauf ein, dass ich alleine durch die Welt gehe.

Florian Vock, Sie sind 60 Jahre später geboren. Wie war das für Sie?

Florian: Auch wenn zwischen Ernst und mir Jahrzehnte liegen und die Umstände unserer Jugend total verschieden sind, bleibt die persönliche Erfahrung dieselbe. Dieses Gefühl, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, alleine zu sein, niemand zu haben – ich glaube, dieses Gefühl durchleben alle queeren Personen in einem Moment ihres Lebens, egal ob vor 100 Jahren oder jetzt. Die Frage ist nur, was für ein Umfeld und welche Ressourcen bereitstehen, um dieses Gefühl aufzufangen.

Worauf konnten Sie zählen?

Florian: In vergangenen Jahrzehnten musste man unglaublich viel Aufwand betreiben, um überhaupt eine Gemeinschaft zu finden. Das ist heute sicher anders. Als ich ein Teenager war, hatte die Digitalisierung in den Nullerjahren jeglichen Austausch der LGBTQ-Community ins Internet verschoben, und im «echten Leben» fehlte ein Austausch. Es war eine Einöde! Als ich mit Freundinnen und Freunden 2012 die Organisation «Milchjugend» gegründet habe, war dieses Gefühl ausschlaggebend.

Ernst Ostertag, Sie waren jahrelang Mitglied der Zürcher Schwulenorganisation «Der Kreis». Wie haben Sie dazu gefunden?

Ernst: Ich habe gar nicht nach Gemeinschaft gesucht, ich hätte auch gar nicht gewusst wie und wo. Erst in der Rekrutenschule, ich war 22 Jahre alt, hat mir einer beim Duschen gesagt: «Du mit deinem Luxus-Körper, wenn du beim Bürkliplatz hinstehen würdest, könntest du eine Menge Geld verdienen. Dort am Pissoir sind die Schwulen.» Ich wurde natürlich rot. Aber am nächsten Wochenende stand ich am Bürkliplatz. Ich habe mir einen Mann herausgesucht, der mir interessant erschien – ich wollte nichts von ihm, ausser mit ihm zu reden. Er hat mir dann seine «Der Kreis»-Hefte gezeigt und mir von dieser Organisation erzählt.

Erinnern Sie sich an Ihren ersten Besuch dort?

Ernst: Es war einfach wunderbar! Alle Männer waren schwul. Ich konnte mit jedem reden und stundenlang diskutieren. Bis um 12 Uhr, dann war die Polizeistunde. Das war eine Art Familie. Ich spürte: Hier fühle ich mich zu Hause und kann ein ganzer Mensch sein.

Florian: Wenn ich diese Geschichte von Ernst höre, bin ich erstaunt, wie unglaublich ähnlich die Erfahrungen heute sind. Das Verstecken, diese staatlich gewollte Diskriminierung, das Risiko, sein soziales Leben durch ein Outing zu verlieren – klar, das war zu Ernsts Zeiten eine komplett andere Welt. Aber die innerste Erfahrung und diese Suche nach einem Ort, an dem man ankommen kann, zu Hause sein kann – die gibt es heute noch.

Ernst Ostertag, «Der Kreis» war legendär für seine Bälle.

Ernst: An den grossen Bällen im Zürcher Theater Neumarkt sind alle zusammengekommen. Es gab Musik, es wurde getanzt und immer etwas dargeboten, ein Theaterstück oder diverse Sänger, die in Frauenkleidern auftraten – das Wort Dragqueen gab es noch nicht. Bei der Vorbereitung dieser Feste konnte sich jeder einbringen. Am Höhepunkt des Abends wurden alle erwähnt, allen gedankt: vom Bühnenarbeiter bis zu denen, die die Dekorationen hergestellt oder den Saal geputzt haben.

Florian: Das ist heute genau gleich! Die «Milchjugend» veranstaltet ein Festival. Dort gibt es Millionen von Aufgaben und immer Leute, die mithelfen wollen. Auch der Ball der «Milchjugend» ist eine Hommage an die Bälle des «Kreises». Er findet am gleichen Ort, im Theater Neumarkt statt. Alle Geschlechter treten in Geschlechterkleider aller Art auf, man tanzt, man trinkt vielleicht ein Glas Prosecco zu viel und traut sich dann, endlich diese eine Person anzusprechen.

«Diese Suche nach einem Ort, an dem man zu Hause sein kann – die gibt es heute noch.»

Florian Vock

Was war früher dennoch anders als heute?

Florian: Der grosse Unterschied ist das, was passiert, wenn man aus der Türe des Neumarkts hinaustritt. Ich kann nach diesem Fest nach Hause laufen mit einem Freund und sogar meiner Mutter Bilder zeigen, das ist überhaupt kein Problem.

Ernst: Für uns war draussen immer «die andere Welt». Es hiess: Egal ob ihr etwas viel getrunken habt, die Türe des Neumarkts im Rücken heisst, nicht mehr laut sein. Nicht mehr miteinander Arm in Arm durch die Gassen ziehen. Auf keinen Fall die Aufmerksamkeit von falsch gesinnten Leuten auf sich ziehen. Wir waren glücklich im «Kreis», aber es war eine klandestine Welt. Jeder hatte einen Vornamen, aber keiner wusste, ob dieser echt ist. Erst auf dem Heimweg hat man sich eventuell den richtigen Namen gesagt oder Adressen ausgetauscht. Das ging auch lange gut.

Wann veränderte es sich?

Ernst: Ende der Fünfzigerjahre gab es Morde im Strichermilieu. Die Presse zog den «Kreis» in den Dreck, und alle Homosexuellen galten erstens als Verführer von Minderjährigen und zweitens als Kriminelle. Wir verloren unsere Heimat Anfang der Sechzigerjahre, als die Stadt Zürich von der Repression erfasst wurde und das Tanzen unter Männern verbot. Das führte zum Ende des «Kreises». Für uns brach eine Welt zusammen, wir konnten nirgends mehr hin. Im Park machte die Polizei regelmässig Razzien, in Bars auch, und am Waldrand suchten sie mit Hunden nach uns. Wir trugen immer den Pass bei uns, um ja nicht auf den Posten mitgenommen zu werden. Wir haben uns kaum mehr getraut, hinauszugehen.

Wie lange hielt dieses Leben im Versteckten an?

Ernst: Bis 1978. Da verfassten wir eine Petition zur Aufhebung des Schwulenregisters der Zürcher Polizei. Wir stellten uns mit einem Stand an der Bahnhofstrasse öffentlich hin und sammelten innerhalb von viereinhalb Stunden fast 5700 Unterschriften. Diese Aktion war zugleich der erste «Christopher Street Day» (CSD) in Zürich. Ein halbes Jahr später wurde das Register offiziell vernichtet.

Heute heisst der CSD «Zürich Pride». Ist das Verstecken dem Stolz gewichen?

Florian: Ich glaube, dass es so etwas wie kollektive Traumata gibt, die über Generationen weitergetragen werden. Die Angst, entlarvt zu werden, und die Angst vor Gewalt gibt es auch heute bei queeren Menschen noch – es gibt auch noch immer Gewalt, wenn auch nicht im selben Ausmass. Historische Erfahrungen schreiben sich in einer Community ein, auch wenn man selber nicht dabei gewesen ist. Umgekehrt erlebe ich aber auch zu allen Zeiten den Mut, hinzustehen und zu kämpfen. Jedes Jahr kommen mehr Menschen zur Pride. Warum? Weil man die Erfahrungen der anderen sieht und weiss, dass nichts sicher ist, aber dass man zusammen viel erreichen kann.

Ernst Ostertag, wenn Sie so jung wären wie Florian, was würden Sie tun?

Ernst: Genau das gleiche wie er. Ich kann mir gar nichts anderes vorstellen.

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