Switzerland
This article was added by the user . TheWorldNews is not responsible for the content of the platform.

Den Landeskirchen fehlen die Jungen: Zweifeln ist erlaubt

1/18

Pfarrerin Saskia Urech und Sozialdiakon Reto Bianchi sind in Aarau gemeinsam für den Konfirmationsunterricht zuständig. Ihr Unterricht verändert sich inhaltlich von Gruppe zu Gruppe, weil die Fragen der Jugendlichen anders sind.

Karen Schärer (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

Wenn Pfarrerin Saskia Urech (38) ein Apérohäppchen serviert, geschieht dies in aller Stille. Sie sitzt mit Konfirmandinnen und Konfirmanden auf dem Steinboden der reformierten Stadtkirche Aarau im Kreis, es ist ein Dienstag, 17.30 Uhr. Ein Mädchen zündet die erste Kerze an, steckt sie in die sandgefüllte Schüssel in der Mitte. Angeleitet durch die Pfarrerin lesen die Teenager abwechselnd kurze Gebetsabschnitte vor, dazwischen sitzen sie still da. Nicht mehr als 15 Minuten dauert die Mini-Andacht, eben: ein Apérohäppchen, wie es Saskia Urech mit einem Lachen nennt: «Genug lang, um den Jugendlichen zu zeigen, was ein Gottesdienst in der Gemeinschaft sein kann, genug kurz, dass sie nicht einschlafen.»

Zeigen, was ein Gottesdienst sein kann – das ist erforderlich: Jede neue Generation sei etwas weniger religiös, stellen die Autorinnen und Autoren des kürzlich erschienenen Buchs «Religionstrends in der Schweiz» fest. Die heutigen Jungen haben die geringste Bindung zu Religion und Kirche.

Viele gehören keiner Religion an

In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Religionslandschaft in der Schweiz drastisch verändert. 1970 dominierten die Landeskirchen: 96 Prozent der Menschen waren Mitglied einer der beiden Landeskirchen; je fast die Hälfte der Bevölkerung zählte entweder zur römisch-katholischen oder evangelisch-reformierten Kirche. Heute kommt die katholische Kirche noch auf einen Anteil von 34 Prozent, die reformierte sogar nur noch auf 22 Prozent. Markant zugenommen hat ab 1970 der Anteil der Menschen, die keiner Religion angehören: Er wuchs von 1 auf 31 Prozent.

Dank Zuwanderung aus Ländern wie Italien, Spanien, Frankreich oder Portugal bleibt die Zahl der Katholikinnen und Katholiken relativ stabil. Die Gemeinschaft der Reformierten hingegen schrumpft wie ein Gletscher im Hitzesommer. Die Dimension des Mitgliederschwunds ist schwerwiegend: 667'000 Menschen weniger als 50 Jahre zuvor zählten die Reformierten im Jahr 2020. Fast 420'000 davon hat die Landeskirche allein seit dem Jahr 2000 verloren – sie sind gestorben oder ausgetreten, und Nachwuchs ist nicht nachgerückt.

Halb so viele Konfirmationen wie vor 20 Jahren

Ein Nachwuchsproblem haben die Reformierten ebenso wie die Katholiken. Das lässt sich an der Anzahl Taufen, Konfirmationen und Firmungen (siehe Box) ablesen, die immer weniger nachgefragt werden: So ist die Zahl der Konfirmationen in den vergangenen 20 Jahren um die Hälfte eingebrochen; zwei Drittel des Rückgangs fallen auf die vergangenen 10 Jahre.

Die Firmung 18+

Auch die Zahl der Firmungen in der katholischen Kirche ist in den letzten 20 Jahren stark zurückgegangen. Allerdings sind die Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren, da in den vergangenen Jahren die meisten Bistümer das Firmalter auf 17 Jahre oder sogar 18+ angehoben haben. «Die katholische Kirche hat deutlich gesagt: Wir stellen uns der Challenge, dass die religiöse Prägung der Menschen geringer ist, vor allem bei jüngeren Menschen», sagt Arnd Bünker (53), Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) in St. Gallen. Mit der später angesetzten Firmung seien die Zahlen tiefer, da nicht mehr die schulische Gemeinschaft automatisch dazu beiträgt, die Anmeldezahlen hochzutreiben. «Es ist nicht wichtig, alle zu firmen, sondern mit jenen einen Weg zu gehen, die sich auf diese Erfahrung einlassen», sagt Arnd Bünker. «So wird jungen Erwachsenen mit der neuen Firmfeier ein Weg zum Glauben geboten.»

Wer mit Repräsentanten der katholischen Kirche spricht, hört bezüglich pädagogischem Konzept nahezu Deckungsgleiches wie von ihren evangelisch-reformierten Kolleginnen und Kollegen. «Der Firmweg ist nicht schulisch und belehrend, sondern geht von den Fragen der jungen Erwachsenen aus», erklärt Arnd Bünker.

Auch die Zahl der Firmungen in der katholischen Kirche ist in den letzten 20 Jahren stark zurückgegangen. Allerdings sind die Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren, da in den vergangenen Jahren die meisten Bistümer das Firmalter auf 17 Jahre oder sogar 18+ angehoben haben. «Die katholische Kirche hat deutlich gesagt: Wir stellen uns der Challenge, dass die religiöse Prägung der Menschen geringer ist, vor allem bei jüngeren Menschen», sagt Arnd Bünker (53), Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) in St. Gallen. Mit der später angesetzten Firmung seien die Zahlen tiefer, da nicht mehr die schulische Gemeinschaft automatisch dazu beiträgt, die Anmeldezahlen hochzutreiben. «Es ist nicht wichtig, alle zu firmen, sondern mit jenen einen Weg zu gehen, die sich auf diese Erfahrung einlassen», sagt Arnd Bünker. «So wird jungen Erwachsenen mit der neuen Firmfeier ein Weg zum Glauben geboten.»

Wer mit Repräsentanten der katholischen Kirche spricht, hört bezüglich pädagogischem Konzept nahezu Deckungsgleiches wie von ihren evangelisch-reformierten Kolleginnen und Kollegen. «Der Firmweg ist nicht schulisch und belehrend, sondern geht von den Fragen der jungen Erwachsenen aus», erklärt Arnd Bünker.

Nur logisch. Wer so wenig mit Religion zu tun hat wie ein Starfussballer mit dem öffentlichen Verkehr, wird sich kaum für kirchliche Angebote anmelden. Dabei wäre ein gefestigter Glaube gar nicht Voraussetzung, um am Konf-Unterricht teilzunehmen. Im Gegenteil: Pfarrerin Saskia Urech, die seit 2021 in Aarau wirkt, begrüsst ausdrücklich Zweifel und Fragen. Sie will den Jugendlichen die Ambivalenz der Bibel, ja von Gott selbst, zeigen. «Mal ist er lieb, mal rachsüchtig, mal lässt er ein ganzes Volk untergehen. Ich will vermitteln, dass Glaube an diesen Gott nicht bedeutet, eindeutiges Wissen zu haben», sagt sie. Dies ist auch bei ihren «Könfis» angekommen. «Man kann so glauben, wie man glauben will», sagt Salome (14).

Die neue Losung für die Konfirmation

Das war nicht immer so. Bettina Beer (46), Beauftragte für Kirchenbeziehungen in der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, erklärt am Telefon, die Kirche nehme heute jede Person, unabhängig von ihrem Alter, als genauso mündig vor Gott an: «Heute ist man überzeugt: Glaube kann sich entwickeln, schon die Auseinandersetzung damit ist wichtig.» Die Kirche ist im Wandel – auch wenn sie nicht besonders agil auf veränderte Bedürfnisse eingeht. «Die Reaktion vonseiten der Kirche war langsam, doch sie ist gekommen», sagt Beer. In Bezug auf die Konfirmation lautet die Losung: die Jugendlichen ernst nehmen und einbinden, ihnen die Möglichkeit geben, das Programm mitzugestalten. Und: weniger Zeit beanspruchen. Musste man sich einst die Konfirmation erarbeiten, vielleicht gar eine Prüfung ablegen, gibt es heute keinen verbindlichen Lehrplan und keine dogmatischen Sätze mehr. Beschult wird niemand mehr. Dafür wird diskutiert.

Anna-Lena (14) aus Aarau sagt: «Wir führen offene Diskussionen, die im Alltag keinen Platz hätten. Es ist spannend, über Fragen nachzudenken wie: Was ist Gott? Wie merkt man, dass Gott da ist?» Die Vorbereitung auf die Konfirmation bietet jenen, die teilnehmen, die Möglichkeit, sich mit dem persönlichen Glauben zu befassen. «Man hat sonst nicht so Gelegenheit, sich mit Glaubensfragen auseinanderzusetzen. Ich finde es gut, kann ich hier biblische Geschichten und Gott näher kennenlernen», sagt Konfirmandin Jonna (14).

Nach der kurzen Andacht geht es in der Konf-Stunde um Gottesbegegnungen. In einem Seminarraum gegenüber der Kirche zeichnen die Teenager Comics zu Szenen aus der Bibel, in denen sich Gott bemerkbar macht. Saskia Urech schafft Bezüge zum Heute, fragt, wie die Gruppe Gott in den besprochenen Bibelstellen erlebt. Die Pfarrerin ist gemeinsam mit Sozialdiakon Reto Bianchi (57) für den Konfirmationsunterricht zuständig, je mit eigenem Fokus. Sie, lockeres T-Shirt, rasierte Seitenpartien unter dem kinnlangen Bob, ansteckendes Lachen, sagt: «Für mich wäre es das Grösste, wenn die Jugendlichen sich später in einer Zeit der Überforderung oder einem Gefühl der Ohnmacht daran erinnern: Da ist ein Gott. Der hat mich gern, und ich kann mit ihm reden.» Er, Smartwatch, Baggy-Pants und weisse Turnschuhe, sagt: «Für mich steht das Miteinander im Zentrum.» Der kirchliche Jugendarbeiter schickt die Teenager nicht nur gruppenweise mit dem Zug quer durch die Schweiz oder nimmt sie mit auf eine Pilgerwanderung, sondern ermöglicht ihnen auch Begegnungen mit Geflüchteten oder anderen sozial schwächer gestellten Menschen.

Kirche in Konkurrenz

Der zeitliche Aufwand für die Konfirmandinnen und Konfirmanden ist kleiner als früher. Wäre es anders, hätte das Programm einen noch schwereren Stand. Denn: «Die Kirche steht heute in Konkurrenz zu Sportvereinen, politischem Engagement, zum Kampf für Klima- oder Gendergerechtigkeit», sagt Bettina Beer. «Viele Jugendliche sind sehr engagiert und stehen zudem unter Druck vonseiten der Schule.»

Die grösste Herausforderung bleibt aber, Jugendliche überhaupt zu erreichen. Dies ist schwierig geworden – und betrifft schon die Eltern-Generation, der das Kirchenpersonal kaum mehr begegnet. Denn die Nachfrage nach religiösen Angeboten für Paare und Familien bricht kontinuierlich ein. Das bedeutet konkret: Wenn Paare auf den Segen für ihre Heirat verzichten, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Kind taufen lassen. Die Mitgliedschaft des Kindes in der Kirche ist damit schon beendet, bevor sie begonnen hat. Die Taufe allein ist aber natürlich kein Garant, dass das Kind religiös sozialisiert wird: Unter den Reformierten bezeichnet sich jeder und jede vierte als unsicher im Glauben oder gar atheistisch.

Viele Eltern sind selbst weit weg von der Kirche

Bekommt das Kind einer Familie, in der Glaube und Kirche im besten Fall eine Nebenrolle spielen, im Alter von 13 oder 14 eine formelle Einladung zum Konfirmationsunterricht, kann es damit so wenig anfangen wie mit einer Filmrolle einer analogen Kamera. Als seine Eltern sich drei Jahrzehnte zuvor konfirmieren liessen, wurde dies gesellschaftlich kaum hinterfragt, die Konfirmation gross gefeiert, auch Bekannte aus der Nachbarschaft gratulierten. Heute ist diese Selbstverständlichkeit verschwunden. Nun halten Eltern diesen Brief in den Händen und hadern mit sich. Sollen sie ihrem Kind einen Weg empfehlen, den sie selbst verlassen haben? Und mit welchen Argumenten könnten sie dies tun? Ihre eigenen Erinnerungen sind wenig hilfreich: Der wöchentliche Unterricht und das Büchlein mit Zetteln, in dem der Besuch von Gottesdiensten in vorgegebener Zahl nachgewiesen werden musste, wecken ein Gefühl von «absitzen». Dass Konf und Kirche im Wandel sind, haben viele der Eltern nicht mitbekommen.

Das Elternhaus wäre allerdings bedeutsam, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche an Glaube und Kirche heranzuführen. Rhea (14), Tochter eines Pfarrers, ist heute die Ausnahme, wenn sie sagt: «Für mich war immer klar, dass ich konfirmiert werden will. Kirche gehört einfach ein bisschen dazu.» Wenn es aber nicht die Eltern sind, wer animiert dann zur Konfirmation? Es sind andere Jugendliche, Kolleginnen und Kollegen – das wird in der Gruppe in Aarau deutlich. «Ich habe aus früheren Jahrgängen viel Gutes gehört über den Konf-Unterricht, und ich habe mich mit meinen Kolleginnen zusammen für die Konf entschieden», erzählt Kim (15).

Eine Chance für die Kirche

In Aarau hat der Konfirmationsunterricht derzeit Zulauf. Werden im Frühling 2023 knapp 20 Jugendliche konfirmiert, steigt die Zahl beim folgenden Jahrgang auf gut 30. Gesamtschweizerisch hat der Rückgang bei den Konfirmationen in den vergangenen drei Jahren stagniert. Die Kirche hat akzeptiert, dass junge Menschen – wie schon ihre Eltern – vermehrt kaum kirchlich sozialisiert sind. Bettina Beer von der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz vermag darin sogar Potenzial zu erkennen: «Diese Jugendlichen begegnen der Kirche vorbehaltlos und ohne Berührungsängste.» Nun gehe es darum, sie dort zu treffen, wo sie sind, und ihnen Türen zu öffnen.