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Mamablog: Interview zum Buch «Anders aufgewachsen»: «Jede Kindheit hinterlässt Spuren»

Mamablog: Interview zum Buch «Anders aufgewachsen»«Jede Kindheit hinterlässt Spuren»

Die Autorinnen Seraina Sattler und Anna Six haben elf Menschen mit einer aussergewöhnlichen Kindheit porträtiert. Uns haben sie erzählt, was sie dabei gelernt haben.

Anderer Zeitgeist, andere Normen: Im Verlaufe des Buchprojekts habe sich der Begriff «anders» verändert.

Anderer Zeitgeist, andere Normen: Im Verlaufe des Buchprojekts habe sich der Begriff «anders» verändert.

Fotos: Bildausschnitte aus dem Buch «Anders aufgewachsen»

Elf Menschen, geboren zwischen 1944 und 1998, erzählen im Buch «Anders aufgewachsen» (Christoph Merian Verlag) von ihrer aussergewöhnlichen Kindheit. Sie alle teilen die Erfahrung des frühen «aus der Norm Fallens», wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Sara Stöcklin etwa ist in einem freikirchlichen Milieu aufgewachsen, Peter Biefer mit zwei Müttern und Lilian Köchli hat im Guerillakrieg ihre Eltern verloren. Offen gewähren alle Porträtierten Einblick in ihre frühen Lebenswelten, sprechen über Schweres und Leichtes, über Fremdheitsempfinden und Zugehörigkeitsgefühle und zeichnen so ein vielfarbiges Bild von Kindsein und Familienkultur der vergangenen Jahrzehnte. 

Wie prägend sind die ersten Lebensjahre? In «Anders aufgewachsen» gehen die Autorinnen Seraina Sattler und Anna Six dieser Frage nach.

Wie prägend sind die ersten Lebensjahre? In «Anders aufgewachsen» gehen die Autorinnen Seraina Sattler und Anna Six dieser Frage nach.

Foto: zvg

Frau Sattler und Frau Six, Sie haben elf Menschen und deren sogenannte «andere» Kindheit in Ihrem Buch porträtiert – wie sind Sie bei der Auswahl vorgegangen?

Seraina Sattler: Wir haben uns einerseits Themen überlegt, die in öffentlichen Debatten eine Rolle spielen. Wie etwa die Abschaffung des Zölibats, die Adoption von Kindern von homosexuellen Paaren oder Young Carers, also Kinder und Jugendliche, die Angehörige pflegen. Parallel dazu haben wir im Freundes- und Bekanntenkreis nachgefragt, wer jemanden kennt, der eine aussergewöhnliche Kindheit gehabt hat. Wir wollten eine möglichst gute Mischung hinbekommen, junge und alte Menschen porträtieren sowie Leute aus verschiedenen Gegenden der Schweiz.

Anna Six: Ausserdem war es uns wichtig, eine Vielfalt an Kindheiten zu zeigen, also nicht nur Schicksalsgeschichten zu erzählen. Vielmehr wollten wir eine Breite an Lebenswelten aufzeigen, an der erkennbar wird, dass jede Kindheit Spuren hinterlässt – unabhängig davon wie exotisch, heiter oder dramatisch sie war. 

Ich nehme an, Sie hatten viel mehr Kindheitsgeschichten auf dem Tisch als elf.

Seraina Sattler: Wir hatten eine Liste von etwa fünfzig Ideen zusammengetragen, die teilweise auch nur vage waren. Zum Beispiel hatten wir uns zu Beginn überlegt, jemanden zu porträtieren, der in seiner Kindheit um die Welt gesegelt ist. Adoptionsgeschichten bekamen wir viele zugeschickt oder erzählt – offensichtlich ein Thema, welches sehr bewegt. Abschliessend eine Auswahl zu treffen, war gar nicht so einfach.

Der Titel «anders aufgewachsen» wirft unmittelbar die Fragen auf, was mit «anders» gemeint ist? 

Anna Six: Was wir unter dem Begriff «anders» verstehen, hat sich im Laufe unseres Projekts verändert. Zu Beginn suchten wir noch nach möglichst aussergewöhnlichen Geschichten, die weit weg von der Mehrheit sind. In der Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten haben wir allerdings gemerkt, dass wir eine Unterscheidung in «das Besondere» und «das Normale» gar nicht vornehmen wollen. Der Begriff wurde für uns viel komplexer. 

Können Sie das erläutern?

Anna Six: Was man als «anders» wahrnimmt, hat auch mit dem Zeitgeist zu tun. Etwa das Leben mit gleichgeschlechtlichen Eltern, wie in unserem Beispiel von Peter Biefer, welches aus den Siebzigerjahren stammt. Damals war der Begriff «Regenbogenfamilie» noch nicht geläufig. Umgekehrt galt es in der Vergangenheit nicht als aussergewöhnlich, neun Kinder zu haben – heute hingegen ist dies wohl für viele unvorstellbar. 

«Anders» kann aber auch bedeuten, dass jede und jeder seine Kindheit anders erlebt – das lässt sich bei Geschwistern schön beobachten – obwohl ja die Rahmenbedingungen jeweils dieselben waren.

Anna Six: Genau. Das sieht man etwa im Porträt von Sara Stöcklin, die in einem engen Glaubenskorsett eines freikirchlichen Milieus aufgewachsen ist, und etwas anderes aus dem Erlebten gemacht hat als beispielsweise ihr Bruder, der eher daran litt. 

«Mich hat beeindruckt, dass es gar nicht so viel braucht, damit ein Kind gestärkt ins Leben starten kann.»

Seraina Sattler, Autorin

Wie haben Ihnen die Porträtierten von ihrer Kindheit erzählt – häppchenweise oder in einem «Schnurz»? 

Seraina Sattler: Das war sehr unterschiedlich. Wir haben einen groben Fragebogen ausgearbeitet, der je nach Person jedoch gar nicht gross zum Tragen kam. Die einen haben uns ihre Geschichte in einem Bogen erzählt, andere wiederum häppchenweise. Mal leiteten wir das Gespräch mehr, mal weniger. Wir haben alle Porträtierten zwei bis drei Mal getroffen und führten immer längere Gespräche von rund zwei bis drei Stunden. 

Es war für Ihre Protagonistinnen und Protagonisten bestimmt nicht immer einfach, sich zu erinnern – einerseits um die Geschehnisse der eigenen Kindheit zeitlich einzuordnen und andererseits gab es womöglich sehr aufwühlende Momente?

Seraina Sattler: Tatsächlich haben viele eine emotionale Distanz zum Erlebten einnehmen können, sie hatten das Vergangene wohl bereits für sich «gebüschelt». Interessant ist, dass bei jenen, die von aussen betrachtet eher eine «harmlose» Geschichte erzählt haben, während des Gesprächs teilweise Tränen geflossen sind. Lilian Köchli hingegen, die so viel in ihrer Kindheit hat durchmachen müssen – sie hat im Guerillakrieg ihre Eltern verloren und wurde danach in der Schweiz von ihren Adoptiveltern misshandelt– konnte die Geschehnisse einfach so erzählen. Das hat mich sehr beeindruckt. 

Wahrscheinlich hat Lilian eine Strategie entwickelt, wie sie die Geschehnisse überhaupt überleben konnte.

Seraina Sattler: Genau. Sie hat einen Umgang mit ihrer Kindheitsgeschichte gefunden und gemerkt, dass sie schmerzhafte Dinge zwar betrachten und als Teil von sich akzeptieren kann, sich aber lieber aufs Jetzt konzentrieren möchte. 

«Wenn Kinder spüren, dass sich jemand für sie einsetzt und nicht wegschaut – eine Tante, ein Lehrer oder Nachbarn – kann das einen grossen Stellenwert innerhalb einer Biografie haben.»

Seraina Sattler, Autorin

Die ersten Lebensjahre prägen uns. Bis heute ist allerdings von Forschungsseite unklar, inwiefern die in der DNA abgespeicherten Erbfaktoren dominant sind. Oder, ob wir vielmehr durch unsere Umwelt, durch die Eltern, Geschwister, die ersten Erfahrungen als Kleinkind geformt werden? Was glauben Sie aufgrund Ihrer gesammelten Lebensgeschichten?

Anna Six: Kurz zusammengefasst: Beziehungen prägen Kinder stark. 

Seraina Sattler: Mich hat beeindruckt, dass es gar nicht so viel braucht, damit ein Kind gestärkt ins Leben starten kann. Wenn ein liebevolles Umfeld vorhanden ist, welches auf sie eingeht und für sie da ist, dann können Kinder recht viel an Schwierigem ertragen. Ohne dieses fehlt dem Kind ein Boden. Was nicht bedeutet, dass es Kinder dann nicht schaffen können, sie haben es einfach schwerer. 

Anna Six: Ein gutes Beispiel dafür liefert das Porträt von Maria Zanola, eines von neun Kindern, welche zu Hause ziemlich viel auf dem Hof arbeiten musste. Auf einem Bauernbetrieb, der nur funktionieren konnte, weil alle Kinder ihre fixen Aufgaben hatten. Heute würde man sagen: Das ist nicht kindgerecht. Maria hingegen wusste, dass ihre Eltern sie gern hatten; sie spürte emotionale Wärme. Aus diesem Grund hat sie die Arbeit auf dem Hof auch nicht als ausbeuterisch erlebt, sondern hat ihre Rolle als wichtig erachtet. Betrachtet man aber beispielsweise das Leben von sogenannten Verdingkindern, die ebenfalls viel arbeiten mussten, dafür aber kaum Wertschätzung bekamen, wird es ausbeuterisch und schmerzhaft.

Seraina Sattler: Auch das Porträt von Katharina Arzt, deren Vater katholischer Priester ist und deren Mutter früh verstarb, liefert ein gutes Beispiel dafür. Eine enge Freundin der Mutter hat das Mädchen aufgenommen und ihr ein warmes Zuhause gegeben. Damit wurde der Verlust der Mutter für Katharina zumindest erträglicher. 

Lässt es sich aufgrund Ihrer Porträts sagen, welche Faktoren einer Kindheit ein glückliches Leben begünstigen?

Anna Six: Wiederum Beziehungen. Auch zu Personen in einem weiteren Umfeld, welche das Kind stützen oder plötzlich wichtig werden. Im Buch ist das beispielsweise bei Peter Biefer der Fall, der mit zwei Müttern aufgewachsen ist. Er vermisste männliche Vorbilder. Diese Rolle hat dann der Lehrmeister «übernommen». Die Beziehung zwischen den beiden war zwar nicht unbedingt liebevoll – sondern eher durch Reibung geprägt – sie liess Peter aber spüren, dass sich jemand für ihn einsetzt. 

Seraina Sattler: Das ist der Punkt: Wenn Kinder spüren, dass sich jemand für sie einsetzt und nicht wegschaut – eine Tante, ein Lehrer oder Nachbarn – kann das einen grossen Stellenwert innerhalb einer Biografie haben. Das ist auch mein persönliches «Learning» aus unserem Buch: Man darf den Mut haben, sich auch mal in die Angelegenheiten anderer Familien einzumischen. Gerade im Kleinen kann man für so manches Kind unterstützend sein. 

Aufwachsen ist also keine Privatsache? 

Anna Six: Genau. Diese Aussage hat sich für uns im Laufe der Recherche bestätigt. Etwa am Beispiel von Samira El Ghatta. Sie war ein Kind, das sich um ein bedürftiges und krankes Familienmitglied kümmerte – in ihrem Fall um die Mutter. Heute würde man sie als Young Carer bezeichnen. Das Thema geniesst derzeit grosse Aufmerksamkeit und hat zahlreiche Forschungsprojekte ausgelöst. Was sehr wichtig ist. Denn solche Kinder und Jugendliche sehen ihre Rolle ja oft als selbstverständlich – da sie es nicht anders kennen – obwohl die häusliche Situation eine enorme Anforderung an sie stellt. Und eine Verantwortung bedeutet, die einem Kind eigentlich nicht zugedacht ist. Aus Scham teilen sich solche Kinder oft nicht mit. Zum Glück gibt es heutzutage aber zahlreiche Bestrebungen, um solche Kinder zu erkennen, zu verstehen und zu unterstützen. Daran wird deutlich, wie sich Privates mit öffentlichem Interesse verzahnt. 

Wenn ich mich an meine eigene Kindheit zurückerinnere, tauchen oft nur Fragmente auf und es kommt vor, dass ich dieselbe Situation an verschiedenen Tagen unterschiedlich erinnere und interpretiere. Sich zu erinnern, scheint ziemlich trügerisch zu sein.  

Anna Six: Ich würde es nicht trügerisch nennen, aber Erinnern ist immer auch ein selektives Formen. Was unsere Porträtierten erzählen, ist dementsprechend immer nur ein Teil ihrer Erinnerung und es ist normal, dass man gewisse Dinge erzählt und andere ausspart. Erinnern ist immer nur eine Momentaufnahme. Hätten wir die Interviews ein halbes Jahr später geführt, wären womöglich andere Dinge in den Vordergrund getreten. Das Dynamische in diesem Denkprozess hat Einfluss darauf, an was man sich erinnert. 

Seraina Sattler: Viele Erlebnisse aus der Kindheit kann man erst im Nachhinein einordnen. Die Fähigkeit, das Erlebte zu reflektieren, erwirbt man oft erst im Erwachsenenalter. 

Eltern machen sich oftmals einen riesen Druck und versuchen immer, alles möglichst richtig zu machen – wie gross ist der elterliche Einfluss tatsächlich?

Anna Six: Als Eltern hat man die Entwicklung eines Kindes nur zu einem gewissen Grad in der Hand. Deshalb glaube ich, man investiert am besten in eine liebevolle Beziehung. Ich wünsche mir, dass diese Zuversicht aus den Geschichten zu unseren Leserinnen und Lesern spricht.

Nicole Gutschalk ist Leiterin des Mamablogs. Mit Mann, drei Kindern und Dackel lebt sie in Zürich. In Sachen Erziehung plädiert sie für mehr Gelassenheit.

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