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«Russland wird im Oktober verloren haben» – 3 Experten sagen, wie der Krieg enden könnte

Ukrainian soldiers of the 28th brigade walk together at their position on the frontline near Bakhmut, Donetsk region, Ukraine, Monday, March 27, 2023. (AP Photo/Libkos)

Ukrainische Soldaten in der Nähe der umkämpften Stadt Bachmut. Bild: keystone

Die Aussagen eines ETH-Experten zum Ausgang des Ukraine-Krieges sorgen für viel Aufsehen. Militärökonom Marcus Keupp behauptet: «Russland wird den Krieg im Oktober verloren haben.» Es gibt jedoch Experten, die ein anderes Kriegsende skizzieren. Sie sehen Russland nicht am Ende.

Welches Szenario letztendlich eintreffen wird, kann niemand mit abschliessender Gewissheit sagen. Die Gedankengänge folgender drei Experten sind jedoch spannend und zeigen mögliche weitere Entwicklungen des Ukraine-Krieges auf.

Marcus Keupp

Schauen wir uns zunächst die Überlegungen von Marcus Keupp an. Er glaubt, dass die Ukraine im April eine Offensive mit westlichen Panzern starten wird. Gegenüber der NZZ sagt er:

«Die Ukraine wird vermutlich von Saporischja via Melitopol an die Schwarzmeerküste vorstossen und so die Front in zwei Teile spalten. Mit einem Schwenk nach Westen könnten sie dann die russischen Verbände zwischen Melitopol und Nowa Kachowka einkesseln. Ausserdem könnte sie dann Himars-Raketensysteme an die Küste stellen und so die militärischen Installationen auf der Krim unter Beschuss nehmen sowie die Logistik unterbinden. Das wird dann der Moment sein, wo sich die russische Niederlage abzeichnet.»

Marcus Keupp.

Marcus Keupp.bild: zvg

Der ETH-Experte geht davon aus, dass Russland in den nächsten Monaten die Panzer ausgehen werden.

«Es gibt dazu gute Schätzungen. Die eine stammt von der schwedischen Verteidigungsagentur FOI. Die andere ist die Schätzung des IISS aus London. Diese Institute kommen auf ungefähr 2900 einsatzfähige russische Kampfpanzer. Jetzt müssen Sie dem die Verlustrate entgegensetzen. Dafür nehme ich den Oryx-Blog. Hier sind wir heute auf 1845 Panzern, die Russland verloren hat – also etwa 5 pro Kriegstag. Die verbleibende Reserve von 1055 Stück reicht also noch für maximal 211 Kriegstage.»

Keupp geht nicht davon aus, dass China Russland aufrüsten wird. Gegenüber der NZZ sagt er:

«Wie sollte das funktionieren? Das Kriegsmaterial müsste mit dem Zug an die Front transportiert werden. Allein für eine russische Feuerfrequenz von 50'000 Artilleriegranaten pro Tag entlang der gesamten Front – wie im Sommer 2022 – brauchte man einen Güterzug von 1600 Tonnen pro Tag via Transsibirische Eisenbahn. Das wäre nicht nur logistisch sehr schwierig, man würde diese Züge auch sofort auf den Satellitenfotos sehen und dann sekundäre Sanktionen gegen China verhängen.»

Bei den Russen würden die Ressourcen immer mehr zusammenbrechen, während die Ukrainer dank dem Westen einen «Technologieboost» erhielten, meint Keupp. «Dann ist eigentlich gar kein anderer Verlauf denkbar als eine russische Niederlage.»

Stephen Kotkin

Eine andere Sicht auf die Entwicklung auf dem Schlachtfeld hat Stephen Kotkin. Der Historiker arbeitet an der Stanford Universität und hat eine dreiteilige Biografie über Josef Stalin geschrieben. Im Gegensatz zu Keupp glaubt er, dass vor allem die Ukraine vor einem Ressourcenproblem steht. In einem Interview mit dem New Yorker sagt er:

«In der Spitzenzeit feuerten die Ukrainer bis zu 90'000 Artilleriegranaten pro Monat ab und verbrauchten sie. Die monatliche Produktion von Artilleriegranaten in den USA beträgt 15'000. Nimmt man alle unsere Verbündeten hinzu, alle, die die Ukraine unterstützen, kommt man auf weitere 15'000, wenn man die höchsten Schätzungen zugrunde legt. Man kann also 30'000 Artilleriegranaten produzieren, während man neunzigtausend pro Monat ausgibt. Wir haben die Produktion nicht hochgefahren. Wir bauen nur die Bestände ab. Und wissen Sie was? Sie gehen uns aus.»

Eigentlich müssten die USA Waffen an Taiwan liefern, erklärt Kotkin. Man sei da bereits vier Jahre im Hintertreffen, doch jetzt gingen die Waffen in die Ukraine.

«Russland kann unter den Sanktionen etwa sechzig Raketen pro Monat herstellen. Dabei ist nicht berücksichtigt, was sie aus Afrika zurückkaufen, das sie zuvor verkauft haben. Was sie versuchen, in Geschäften mit Nordkorea oder dem Iran zu bekommen. Das sowjetische Arsenal, das grösste Arsenal, das jemals zusammengebaut wurde – vieles davon verrottet, aber nicht alles. Ein Teil der Produktion läuft noch, nicht so viel, wie Russland es gerne hätte, aber genug, um die Strategie ‹Wenn ich es nicht haben kann, kann es niemand haben› umzusetzen.»

Die russische Führung habe zudem keine Mühe damit, Menschen in den Tod zu schicken, so Kokin. Das Putin-Regime schätze Menschenleben nicht wert.

“We need to get to the other side of this in a way that gives Ukraine a chance to be the country that they want to be, deserve to be, and could be with our support.” An interview with Stephen Kotkin, a historian and scholar of Russian history. https://t.co/3Skf7Lhczi

— The New Yorker (@NewYorker) March 26, 2023

«Wenn die russische Führung 20'000 unausgebildete Rekruten in den Fleischwolf wirft und drei Viertel von ihnen sterben, was machen sie dann? Gehen sie am Sonntag in die Kirche und bitten Gott um Vergebung? Sie tun es einfach wieder. Man spricht von Stalin und den grossen Opfern, die das sowjetische Volk im Zweiten Weltkrieg erbracht hat, als 27 Millionen Menschen starben. Sie waren versklavte Kolchosbauern. Er hatte Millionen und Abermillionen mehr von ihnen. Er warf sie in den Fleischwolf und sie starben. Und dann warf er noch mehr in den Fleischwolf!»

Kokin glaubt daher, dass es eine Lösung geben könnte, bei der die Ukraine nur einen Teil des Landes zurückerobert. In den umstrittenen Gebieten könnte es eine entmilitarisierte Zone wie in Korea geben. Trotz des Gebietsverlustes könnte dies für die Ukraine eine gute Lösung sein, so Kokin.

«Und wenn es eine Ukraine gibt, wie gross auch immer ihr Anteil sein mag – achtzig Prozent, neunzig Prozent –, die als Mitglied der Europäischen Union gedeihen könnte und die eine Art Sicherheitsgarantie hätte – sei es ein vollständiger Nato-Beitritt, sei es ein bilateraler mit den USA, sei es ein multilateraler unter Einbeziehung der USA und Polens und der baltischen und skandinavischen Länder –, dann wäre das ein Sieg in diesem Krieg.»

Lucio Caracciolo

Der italienische Analyst Lucio Caracciolo malt das vielleicht düsterste Szenario. «Dieser Krieg wird auf unbestimmte Zeit andauern, mit langen Pausen für Waffenstillstände», sagt der Herausgeber des geopolitischen Magazins «Limes». «Es wird erst aufhören, wenn die Ukraine oder Russland oder beide zusammenbrechen, da es für beide Seiten um Leben und Tod geht.»

Der Krieg in der Ukraine sei Teil eines globalen Wettstreits zwischen den USA, China und Russland. Es gehe darum, wer in absehbarer Zukunft die Welt anführen werde. Der Besuch Xi Jinpings in Moskau sei als Zeichen an den Westen zu verstehen gewesen, sagt er im Interview mit Il Riformista.

“Lo scontro diretto con Mosca, che probabilmente coinvolgerebbe anche la Cina, significherebbe terzo conflitto mondiale e nessuno ne uscirebbe vincitore”, è l’analisi di Lucio #Caracciolo al Riformistahttps://t.co/j2OZL3anPO

— Il Riformista (@ilriformista) March 23, 2023

«In dem Sinne, dass es im Interesse Xi Jinpings liegt, ein russisch-chinesisches De-facto-Paar zu bilden, bei dem China die Vorherrschaft und Russland als Juniorpartner die Führung in der nicht-westlichen Welt übernimmt. Theoretisch handelt es sich um eine eindeutig dominante Welt, wenn auch nur aus demografischer Sicht, da die Menschen im Westen nur etwas mehr als eine Milliarde von mehr als acht Milliarden Menschen ausmachen.»

Es sei nicht so, dass es einen Block von 7 Milliarden Menschen gebe, die Russland und China unterstützen würden, sagt Caracciolo. Dennoch stehe der Westen vor der «Alternative des Teufels»:

«Ein totaler – also nuklearer – Krieg gegen Russland oder die schrittweise Überlassung Kiews an sein Schicksal. Eine direkte Konfrontation mit Moskau, an der sich wahrscheinlich auch China beteiligen würde, wäre der Dritte Weltkrieg. Aus dem kaum ein Sieger hervorgehen würde.»

Keupp hat auch watson Interviews gegeben:

Raven im Krieg – in der Ukraine stehen Soldaten hinter dem DJ-Pult

Video: watson/Sina Alpiger, Aya Baalbaki