Austria
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Identitätskrise der Konservativen

Sie sind ausgebrannt, ideenlos und überfordert von einer diffusen politischen Auseinandersetzung. Warum sich viele Mitte-rechts-Parteien in Europa neu erfinden müssen.

Wien. Das Vertrauen schwindet – und mit ihm die Macht: Der gemäßigte Konservatismus Europas steckt in einer tiefen Identitätskrise. Es ist ein Prozess, der sich in den vergangenen Jahren abgezeichnet hat und nun, in Zeiten des Kriegs, der Energieknappheit und Inflation, da die Rufe nach einem schützenden Staat lauter werden, darin gipfelt, dass die Parteienfamilie der Europäischen Volkspartei (EVP) nur noch sechs der insgesamt 27 Staats- und Regierungschefs in der EU stellt. Selbst unter ihnen gibt es Wackelkandidaten wie Österreichs Kanzler, Karl Nehammer, der gegen miserable Umfragewerte und eine Demontage in der eigenen Partei kämpft. In Deutschland wiederum müssen sich die von der Macht ausgebrannten Unionsparteien als starke Oppositionspartei neu erfinden, in Frankreich hat der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen die Vorherrschaft rechts der Mitte übernommen. Lediglich in Teilen Osteuropas sind die Konservativen noch stark. Es gibt keine pauschale Erklärung für diese Entwicklung – und doch mehrere zusammenhängende Faktoren, die den Fall der traditionellen Parteien begünstigt haben.

Abnützung der Macht

Europas große konservative, christdemokratisch geprägte Parteien wie der Partido Popular (PP) in Spanien, die CDU/CSU in Deutschland oder die Républicains in Frankreich machen heute einen ermatteten Eindruck. „Es fehlt der Gestaltungsdrang“, analysiert Thomas Biebricher, Politikwissenschaftler an der Copenhagen Business School, im Gespräch mit der „Presse“. „Die Parteien haben keine Identität mehr.“ Das liegt einerseits an internen Hemmnissen, betrachtet man etwa den blassen, profillosen PP-Chef Alberto Núñez Feijóo. CDU-Mann Friedrich Merz wiederum ist gerade dabei, eine orientierungslose, erschöpfte Partei hinter sich zu einen. In Deutschland wie Österreich hat die jahrzehntelange Regierungsbeteiligung zu einer regelrechten Abnützung der Macht bei den Unionsparteien sowie bei der ÖVP geführt. Hinzu kommt, dass viele Kernthemen längst nicht mehr dem Zeitgeist entsprechen: Junge Menschen halten wenig von traditionell geprägten Wertvorstellungen, wie sie in den Leitlinien der Mitte-rechts-Parteien verankert sind. Doch vor allem das Zukunftsthema Klimakrise wird für die Konservativen zu einem wachsenden Problem: Deren tendenziell wirtschaftsliberale Einstellung konterkariert den allgemeinen Wunsch nach einer progressiv gesteuerten Klimapolitik.

Konkurrenz von rechts

Der taktische Umgang mit rechtsnationalistischen, europakritischen Parteien ist für die Konservativen seit jeher heikel. Viele Populisten wie Le Pen geben sich zudem rhetorisch gemäßigter als noch vor einigen Jahren – was die Abgrenzung zusätzlich erschwert. Die Themensetzung ist mitunter überlappend, denkt man nur an den Kampf gegen die illegale Migration, den die extreme Rechte jedoch glaubhafter führen kann. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele wie den griechischen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis von der liberal-konservativen Nea Dimokratia (ND): Seine rigide (und von NGOs wegen der Pushback-Vorwürfe im Mittelmeer stark kritisierte) Migrationspolitik sorgt im eigenen Land wie auch europaweit für große Zustimmung.

Neue Konfliktachse

Die Kernkonfliktachse des europäischen Parteienspektrums verläuft nicht mehr nach reinen Links-rechts-Kriterien – und Konservative tun sich mit dieser diffuser werdenden politischen Auseinandersetzung schwer. Rechtsaußen-Parteien bedienen in der Sozialpolitik die Klientel der ehemaligen Arbeiterparteien, Wirtschaftsliberale geben sich gesellschaftspolitisch weltoffen und modern. „Kein Problem ist diese Unschärfe für die semi-autoritären Konservativen in Ungarn und Polen“, erklärt Biebricher. „Sie verfolgen ohnehin ein gänzlich antipluralistisches Konzept, das die Spielregeln zu eigenen Gunsten umzugestalten versucht.“ Mit erstaunlichem Erfolg: Erst im heurigen Frühjahr konnte der Fidesz seine Macht bei der ungarischen Parlamentswahl ausbauen.

Skandale und Korruption

Werden konservativen Politikern Skandale schwerer verziehen, weil der Wähler an sie einen höheren Anspruch an Seriosität stellt? Im Ex-EU-Mitgliedsland Großbritannien befinden sich die Torys nach den hochnotpeinlichen Fehlschlägen Boris Johnsons im freien Sinkflug: Der Premier hatte während des Corona-Lockdowns heimlich Partys gefeiert und damit gegen das Gesetz verstoßen, seine Nachfolge an der Regierungsspitze soll Anfang September feststehen. In Österreich brachte die Chat-Affäre um mutmaßlich manipulierte Umfragen im vergangenen Herbst Sebastian Kurz zu Fall. Biebricher: „Derlei Fälle verstärken den Eindruck einer Arroganz der Macht. Ein Sentiment, das wiederum leicht von rechts außen bespielt werden kann.“

Bundeskanzler Karl Nehammer.

Österreich

Einige Gründe für den Absturz der Partei sind offensichtlich. Doch intern glaubt man, dass es nicht nur an den Korruptionsvorwürfen und den aktuellen Themen liegt.

Wien darf nicht Berlin werden – zumindest aus Sicht der ÖVP. Und doch droht ihr das Schicksal der deutschen Schwesterpartei CDU, nämlich der Machtverlust nach der nächsten Nationalratswahl. In den Umfragen ist die SPÖ weit vorn, auch hierzulande wird bereits über eine Koalition aus Roten, Grünen und Liberalen spekuliert.

Parallelen gibt es durchaus: Beiden Parteien, ÖVP und CDU, sind im Vorjahr mit Sebastian Kurz und Angela Merkel ihre Lichtgestalten abhandengekommen. Wiewohl das Tempo der Berg- und Talfahrt der ÖVP vergleichsweise abenteuerlich ist: Nachdem die Partei von Kurz im Jahr 2017 von rund 20 auf über 30 Prozent katapultiert worden war, wies der Stimmungsbarometer zwischenzeitlich 48 Prozent in der Sonntagsfrage aus. Und das vor gerade einmal zwei Jahren. Jetzt ringt die ÖVP bei rund 20 Prozent um Platz zwei mit der FPÖ. Etliche Gründe für den Absturz, die für Konservative heikle Themenlage etwa, liegen auf der Hand – doch in der ÖVP werden auch allerhand weniger offensichtliche für die türkise Malaise genannt.

Unrühmliches Bild

Vor allem einer: Die Umfrageaffäre führte zum Rücktritt von Sebastian Kurz – und so kam der ÖVP nicht nur der wichtigste Faktor für den Aufstieg der Vorjahre abhanden, sondern es verfestigte sich auch ein unrühmliches Bild der Partei. Im Jänner gaben in einer Market-Umfrage gerade einmal elf Prozent an, die ÖVP mit Anstand zu verbinden.

Sorgen bereiten Parteichef Karl Nehammer nebst strafrechtlichen Ermittlungen, die regelmäßig in Form von Chats öffentlich auftauchen, aber auch einige Teilorganisationen der ÖVP – allen voran der Wirtschaftsbund in Vorarlberg, der Steuern nicht bezahlt, Unternehmer zu Inseraten gedrängt und Mitarbeiter fürstlich entlohnt haben soll. Die Affäre erfasste auch Landeshauptmann Markus Wallner, der sich seit einigen Wochen im Krankenstand befindet und sein Amt interimistisch übergeben hat. Nicht eben die besten Schlagzeilen produzierte auch der Seniorenbund: Einige Landesorganisationen haben in der Pandemie Förderungen bezogen, die Parteien nicht zustehen. Doch der Seniorenbund berief sich auf seinen Doppelstatus als schwarze Teilorganisation und Verein. Teilweise hat der Bund (zuständig ist Vizekanzler Werner Kogler) das Geld zurückgefordert, es laufen noch Untersuchungen.

Türkise Altlasten, Umfeld in der Kritik

Einige in der ÖVP meinen zudem, eine nicht minder schwerwiegende türkise Altlast übernommen zu haben: und zwar einen Glaubwürdigkeitsverlust nach Jahren eines von übergroßen Ankündigungen geprägten Politikstils. Jetzt, während all der Krisen, zahle die Partei dafür den Preis, heißt es. Das klingt per se nicht unplausibel: Denn objektiv betrachtet hat Türkis-Grün zuletzt etliche Großprojekte, etwa gegen die Teuerung und für Transparenz, vorgelegt, in Umfragen profitiert sie davon nicht – im Gegenteil, die Abwärtsspirale dreht sich weiter.

Etliche ÖVP-Leute kritisieren deshalb hinter vorgehaltener Hand übrigens nicht den Kanzler selbst, sondern dessen Umfeld. Mit dem Kurz-Aus verließen maßgebliche Hintergrundfiguren Partei und Kanzleramt, nun mokieren sich nicht wenige in der ÖVP, dass frühere Zuarbeiter quasi über Nacht zu politischen Referenten und noch Höherem aufgestiegen sind. Zudem sei Nehammers Vertrautenkreis mittlerweile kleiner, als der von Kurz war, wird bemängelt.

Wie will man den Abwärtstrend stoppen? Ranghohe ÖVP-Bundespolitiker meinen, dass sich die Lage schon bessern werde, wenn die beschlossenen Entlastungsmaßnahmen in den kommenden Wochen auf den Konten ankommen. Der zweite Teil der Strategie sind persönliche Kontakte – um die Maßnahmen den Leuten zu erklären. Das Vehikel dafür ist eine Sommertour der Partei mit mehr als 200 Veranstaltungen.

Dreht sich die Negativspirale indes weiter, könnte es – vor allem bei der nahenden Niederösterreich-Wahl – noch unangenehmer werden. Bezeichnend: Bei der Tiroler Landtagswahl will die Landespartei nicht als ÖVP auf dem Wahlzettel stehen, sondern mit dem Namen ihres Spitzenkandidaten. Zuletzt machten bereits Ablösegerüchte die Runde. Die Nehammer dann – für Regierungschefs eher unüblich – auch noch selbst kommentierte: Es handle sich um eine „mediale Sommerlochdebatte“, sagte der Kanzler.

Außenministerin Liz Truss will britische Premierministerin und Chefin der Konservativen werden. Dazu muss sie in einer parteiinternen Wahl Ex-Finanzminister Rishi Sunak schlagen.

Großbritannien

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht: Die Konservativen stecken – auch nach dem Rücktritt Boris Johnsons – in massiven Schwierigkeiten. Vor allem, weil die Partei jüngeren Briten wenig zu bieten hat.

London. Wenn man im vergangenen halben Jahr von der Krise der Tory-Partei sprach, dann war damit vor allem ein Mann gemeint: Boris Johnson. Der Premier machte aufgrund der Party-Affäre negative Schlagzeilen am laufenden Band, mit seinen Lügen und seiner Selbstherrlichkeit drohte er die gesamte konservative Partei in Verruf zu bringen. Das war der Grund dafür, dass er am Ende von seinen eigenen Kollegen gestürzt wurde: Einer, der die Wahlchancen der Tories vermasselt, darf nicht Parteichef bleiben. Aber die Krise der Konservativen geht über die Persönlichkeit Boris Johnsons hinaus. Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin wird auf Dauer dieselben Probleme haben wie der britische Noch-Regierungschef.

Wahlsieg wegen Brexit

Auf den ersten Blick mögen die Tories nicht wie eine Partei in der Krise erscheinen. Der Wahlsieg vom Dezember 2019 war der größte Triumph seit Jahrzehnten, noch immer verfügt die Partei über eine satte Mehrheit im Unterhaus. Aber die Wahl drehte sich vor allem um ein Thema: Die Frage des Austritts Großbritanniens aus der EU, der drei Jahre nach dem Referendum noch immer nicht umgesetzt war, überschattete alles andere.

Mit dem Versprechen, die Angelegenheit ein für alle Mal zu klären, vermochte Johnson, eine ungewöhnliche Koalition von Wählern auf die Beine zu stellen: Dazu zählten sowohl ehemalige Labour-Anhänger im Norden Englands, die sich vom Brexit einen wirtschaftlichen Aufschwung erhofften, als auch traditionelle Tory-Wähler im Süden des Landes. Aber in den Jahren nach dem Wahltriumph zeigte sich, wie schwierig es ist, diese Koalition zusammenzuhalten. Im Norden fragte man sich zunehmend, wo der versprochene ökonomische Ausgleich bleibt, während die Tories vom rechten Rand immer mehr über zu hohe Steuern schimpfen.

Die endlosen, hitzigen Brexit-Debatten der vergangenen sechs Jahre haben die tiefer liegenden Probleme für die Tories eher überdeckt als gelöst. Die grundlegende Schwierigkeit für die Partei besteht darin, dass sie ihr politisches Programm an einer schrumpfenden Wählerschaft ausrichtet, nämlich älteren, sozialkonservativen Briten, denen es wirtschaftlich recht gut geht. In den vergangenen Jahren haben die Tories immer wieder gezeigt, dass sich ihre Politik an den Interessen dieser Leute orientiert: von der aggressiven Rhetorik gegen Migranten bis zur Wirtschaftspolitik. Jüngstes Beispiel ist die Ankündigung im Juni, die staatliche Pension um zehn Prozent anzuheben, damit sie mit der Inflation Schritt hält – während die Regierung zugleich behauptet, eine entsprechende Heraufsetzung der Löhne sei unverantwortlich. Aber für eine Partei, die zu einem großen Teil Pensionisten umwirbt, ergibt das durchaus Sinn.

Gleiches gilt für die Wohnungskrise: Die Tory-Regierung hat trotz aller Rhetorik nichts unternommen, um Wohnraum für jüngere Leute erschwinglich zu machen. Die Immobilienpreise sind heute 65 Mal so hoch wie vor 50 Jahren, die durchschnittlichen Löhne hingegen sind in der gleichen Zeit nur um das 36-Fache gestiegen. Viele junge Leute haben den Traum eines Eigenheims oder einer erschwinglichen Mietwohnung längst aufgegeben. Die älteren Generationen hingegen, die bereits Wohnungen besitzen und deren Vermögen sich entsprechend aufgebläht hat, können gut damit leben.

„Ein Pflegeheim mit einer Armee“

Auf lange Sicht birgt dies jedoch eine Gefahr für die Tories. In seinem Buch „Falling Down“ (2021) schreibt der Soziologe Phil Burton-Cartledge, dass die Partei früher oder später in der Tinte sitzen wird, wenn sie der jüngeren Generation nichts bietet. Die Annahme, dass Wähler mit zunehmendem Alter automatisch konservativer werden, basiere auf einem Trugschluss: Entscheidend sei nicht das Alter, sondern die Tatsache, dass die älteren Generationen seit den 1980er-Jahren ein Vermögen anhäufen konnten – der Besitz von Eigentum, vor allem Eigenheimen, sei „die magnetische Kraft“, von der die Tories profitiert haben, schreibt Burton-Cartledge. Die jüngeren Generationen jedoch bleiben weitgehend eigentumslos, und so wird auch die Wählerschaft der Tories laufend kleiner.

Dieser Gefahr sind sich auch viele Konservative bewusst, insbesondere jüngere. Der Ökonom Sam Ashworth-Hayes, der für die rechtskonservative Henry Jackson Society arbeitet, schrieb vor der Lokalwahl im Mai im Tory-nahen Magazin „The Spectator“, dass er mit zugehaltener Nase für Labour stimmen werde. Die Vision der Tory-Partei für Großbritannien sei im Prinzip „ein Pflegeheim mit einer angeschlossenen Armee“. Sie sei einzig dazu da, die Forderungen von Pensionisten zu erfüllen. Wenn er die Wahl habe „zwischen einer Labour-Partei, die mich verachtet, und einer Konservativen Partei, die mir aktiv das Geld aus der Tasche ziehen will, dann stimme ich für Erstere, bis sich eine dritte Möglichkeit ergibt“.

AUF EINEN BLICK

Die Ablöse ihres Parteichefs, des britischen Premierministers Boris Johnson, hat die konservativen Tories in Turbulenzen gestürzt. Nun kämpfen Außenministerin Liz Truss und der frühere Finanzminister Rishi Sunak um die Nachfolge an der Spitze der Partei. Wer auch immer von beiden das Rennen für sich entscheidet, wird auf Dauer mit denselben Problemen zu kämpfen haben wie ihr Vorgänger. Die Tories machen vor allem Politik für Pensionisten und haben Jüngeren wenig zu bieten.

Nea-Dimokratia-Chef Mitsotakis.

Griechenland

In der Migration setzt Premier Mitsotakis auf einen hart rechten Kurs. Zugleich verteilt er Hilfsgelder und will Energiepreise deckeln.

Athen. Neben den verheerenden Bränden dominiert die sommerliche politische Szene in Griechenland vor allem eine Frage: Kommen im Herbst 2022 vorgezogene Parlamentswahlen – oder wird doch erst gegen Ende der Legislaturperiode im ersten Halbjahr 2023 gewählt? Tatsächlich könnte es sich die regierende konservative Nea Dimokratia unter Premier Kyriakos Mitsotakis jederzeit leisten, einen Urnengang zu riskieren. Die Umfragen sind für eine Partei, die drei Jahre an der Macht ist und mit einer Inflation von zwölf Prozent zu kämpfen hat, hervorragend. Sie liegt zwischen 31 und 34 Prozent, mit einem Respektabstand von acht bis neun Prozentpunkten vor der Linkspartei Syriza des Ex-Premiers Alexis Tsipras. Bei der jüngsten Wahl im Juni 2019 hatte die Nea Dimokratia gar 40 Prozent der Stimmen erhalten, erstaunlich in einer Zeit, in der große Volksparteien einen schweren Stand haben.

Es dürfte das Erfolgsrezept von Mitsotakis sein, dass die Nea Dimokratia es fertigbrachte, eine Volkspartei zu bleiben – sie wird von Arbeitern und Kleinbürgern genauso wie von Industriellen gewählt. Profilierte Frauen, junge Gesichter und auch parteifremde Minister geben seiner Regierung Breite. Natürlich sind Religion, Patriotismus und Familie weiter wichtig für die Partei – aber das sind sie, in Abstufungen, auch für die anderen, sogar Syriza. Der von der linken Opposition angeprangerte „Neoliberalismus“ in den Positionen des Premiers ist jedenfalls nur schwerlich zu entdecken.

So wurde das Füllhorn der Pandemiegelder und EU-Förderungen an fast alle verteilt. Von den europäischen Gläubigern durchgesetzte Öffnungen von Berufsgruppen und Märkten werden stillschweigend zurückgenommen. Als Vertreter des europäischen Südens ist der Konservative wie selbstverständlich für die Umverteilung von Hilfsgeldern. Die im Zuge der europäischen Covid-Hilfe gewährten Pakete würde er gern in einen „automatischen Mechanismus“ umwandeln. Er ist für die Deckelung der Energiepreise und verteilt – in homöopathischen Dosen – Hilfsgelder für Strom und Benzin an die Haushalte.

Seine ideologische Flexibilität hat ihm in seiner Partei bereits den Vorwurf der „Beliebigkeit“ eingetragen, auch von Antonis Samaras, Premier von 2012 bis 2015. Samaras vom rechten Flügel der Partei hatte sich 2016 als Steigbügelhalter bei der Wahl von Mitsotakis zum Parteichef betätigt. Dieser konterte dem zürnenden Altpolitiker, die Partei müsse „in Bewegung bleiben“, ohne ihre Wurzeln zu vergessen. Profil rechts der Mitte zeigt der Ministerpräsident in der Migrationspolitik. So werden immer wieder illegale Rückschiebungen von Flüchtlingen und Migranten in der Ägäis, aber auch an der Festlandgrenze angeprangert. Griechenland kontert, dass man lediglich in internationalen Gewässern gegen „Schlepper“ vorgehe. Seit die Türkei Ende Februar 2020 Tausende Migranten an der Evros-Grenze im Nordosten nach Griechenland treiben wollte, sieht die Regierung die Ankömmlinge als „Angreifer“ in einem asymmetrischen Krieg mit der Türkei.

Unzufrieden, aber ohne Alternative

Misserfolge konnte der Premier bisher gut wegstecken, etwa die hohen Covid-19-Todesraten 2021 oder die katastrophalen Feuer auf Euböa. Das hat nicht nur, aber sicher auch mit der Tatsache zu tun, dass ihm die Medien mehrheitlich wohlgesinnt sind. Keiner der großen TV-Kanäle – auflagenstarke Zeitungen gibt es nach europäischen Maßstäben nicht mehr – könnte als „oppositionell“ bezeichnet werden. Eine nähere Analyse der Umfragen zeigt freilich, dass die Bevölkerung gar nicht sonderlich zufrieden ist mit der Regierung, dass ihr aber die Wahl fehlt. Tsipras hat es bisher nicht ausreichend geschafft, seine Partei, Syriza, als seriöse Alternative in Position zu bringen. Davon profitiert auch die sozialistische Pasok-KinAl, sie konnte sich laut Umfragen mit um die elf Prozent der Stimmen neben Syriza behaupten – und dürfte damit bei den Wahlen eine Schlüsselrolle spielen.

Friedrich Merz, 66, CDU-Hoffnung.

Deutschland

Die Konservativen führen klar in den Umfragen. Restlos überzeugend ist der politische Neuanfang nach dem Wahldebakel noch nicht.

Berlin. Eine schnittige Sonnenbrille auf der Nase, sommerlich gestreiftes Hemd, den ersten Knopf lässig offen. Als Friedrich Merz am Donnerstag in Bayern, etwas nördlich von München, vor die Kameras trat, sah er auch ein Stück weit aus, wie das Zerrbild, das sich seine Kritiker von ihm machen: der Multimillionär und Snob, der Mann mit dem Privatflieger, der auch Politik macht.

Dabei war es kein üblicher Sommertermin, den der 66-jährige Chef der Christlich Demokratischen Union (CDU) in Bayern absolvierte. Hinter ihm ragte der Kühlturm von Isar 2 in die Höhe, einem der letzten drei noch aktiven Atommeiler Deutschlands. Am Ende des Jahres soll er abgeschaltet werden – wenn die Regierung aus SPD, Grünen und FDP nicht umdenkt. Genau das verlangt Merz, der Mann an der Spitze der Konservativen, die sich zum ersten Mal seit 16 Jahren auf der Oppositionsbank wiederfinden.

Geht es nach den Umfragen, sollte deren derzeitiger Machtentzug eine vorübergehende Sache sein: In der Sonntagsfrage liegt die Union aus CDU und ihrer bayerischen Schwesterpartei CSU an erster Stelle. Zwischen 26 und 28 Prozent würden derzeit die Union wählen. Das sind ein paar Prozentpunkte mehr als am Wahlabend im Herbst, an dem die einst mächtigste Parteienfamilie Europas die größte Schlappe ihrer Geschichte erlitt. Bei drei Bundesländerwahlen in diesem Jahr lag die CDU zweimal klar an erster Stelle – darunter auch in einem deutschen Machtzentrum, dem dicht besiedelten Wirtschaftsmotor Nordrhein-Westfalen (NRW). Also wieder alles gut nach dem Horrorjahr 2021 für die deutschen Konservativen?

Noch immer unter 30 Prozent

Die Zahlen lassen sich auch anders lesen. Nach dem katastrophalen Wahlkampf ist die Union noch nicht dort, wo sie in ihrer Geschichte immer war: jenseits der 30-Prozent-Marke. Zwar vermied die CDU nach dem Abgang des glücklosen Armin Laschet, sich in einer Führungsdebatte zu zerfleischen. Der Neuanfang nach 16 Jahren unter der Überfigur und Machtpolitikerin Angela Merkel ist aber noch im Gange.

Für Friedrich Merz lief es zuletzt durchwachsen. Zur Hochzeit von FDP-Finanzminister Christian Lindner auf der deutschen Insel Sylt reiste er mit dem Privatjet an. Ein Klimaforscher bot Merz danach an, ihm die Sache mit der Erderwärmung zu erklären. Dann verstrickte der CDU-Mann sich in einen Klamauk rund um ein konservatives Feindbild, die Cancel Culture. Merz sollte an einer Veranstaltung mit dem republikanischen US-Senator Lindsey Graham teilnehmen. Als der CDUler erfuhr, dass ein umstrittener AfD-Mann eingeladen war, sagte er aber ab. Einen Ersatztermin verweigerte Graham wiederum. Er sehe nicht ein, dass Konservative nun Konservative canceln, so der US-Senator.

Es ist eine Episode, mit der sich das Problem der Union umreißen lässt: Wo steht sie nach den langen Merkel-Jahren? Soll es nach rechts gehen oder in die Mitte?

Im Trachtenjanker vor dem Bergsee

Was immer auch gewählt wird, scheint bisher die Strategie von Merz zu sein. In Schleswig-Holstein unterstützte er einen Merkel-Mann, in NRW einen Mitte-Kandidaten, den noch Armin Laschet ausgewählt hatte. In Bayern zog er sich einen Trachtenjanker an und ließ sich mit Markus Söder, dem CSU-Enfant terrible, vor einem idyllischen Bergsee ablichten. In der „Bunten“ erklärte Merz, er wolle Frauen fördern – denn die seien heutzutage nötig, um Wahlen zu gewinnen.

Nebenbei scheint der Union ein neues Problem zu wachsen: Die Grünen, die sich auf einem Höhenflug befinden. Deren Wirtschaftsminister, Robert Habeck, wird ausgerechnet von Topmanagern des Landes überschwänglich gelobt – einer traditionellen Unions-Klientel. Vor dem Atomkraftwerk in Bayern hat Merz wohl auch deshalb einen Gegner ausgemacht: die Grünen, die Atom-Blockierer. Ob die Union damit Erfolg hat, wird sich spätestens im kommenden Herbst zeigen, wenn in Bayern gewählt wird.

Premierminister Kyriakos Mitsotakis

Leitartikel

Der griechische Premier als letzter Held der Konservativen? Österreich größte Volkswirtschaft unter Mitte-rechts-Führung? Wie konnte das passieren?

Was dem Überbringer schlechter Nachrichten widerfahren kann, ist bekannt. Dennoch, diese Wahrheit ist zumutbar: Die Krise der europäischen Konservativen ist enorm. Nur eine Handvoll kleinerer Länder wird heute von Mitte-rechts-Premiers geführt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist Österreich die wirtschaftlich wichtigste Volkswirtschaft unter „konservativer“ Führung.

Warum die Anführungszeichen? Weil nicht immer klar ist, wer Österreich eigentlich führt. Und was Karl Nehammer politisch will, außer überleben. Er beruft sich lieber auf das christlich-soziale Fundament seiner Partei als seine Vorgänger. Mit aus wirtschaftsliberaler Sicht schweren Tabubrüchen wie Gewinnabschöpfungsideen oder Verstaatlichungsfantasien kann er sich anfreunden. Die Person gibt also dann doch den Kurs vor.

So unterschiedlich wie die Köpfe sind die Gründe für die Probleme der Konservativen: In Österreich ziehen die Korruptionsvorwürfe und das Sittenbild die ÖVP nach unten; in Großbritannien brachten die Gauklerlinie und die Lügen des Boris Johnson die Torys unter Druck.

Aber gewisse Gemeinsamkeiten sind unübersehbar: In allen Ländern sind die Regierungen nach Pandemie, Lockdowns, Russlands Angriff und Energiekrise ausgelaugt. Die Geduld der Bevölkerung ist geschwunden. Vor allem aber: Seit mehr als einem Jahrzehnt hat die Führung Europas und haben so gut wie alle Landesregierungen zur Bewältigung aller Probleme nur ein Rezept gefunden: Geld, Geld und noch mehr Geld. Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Eurokrise, Gesundheitskrise, Energiekrise: Mit Milliardenbeträgen, die die Sozialdemokraten des vergangenen Jahrhunderts hätten erblassen lassen, wurde alles überbrückt. Die Konservativen pochten auf ihren Status als Volksparteien, machten mit, stellten sich gar an die Spitze der Notenpressung-Dröhnung und des Schuldenbergbaus. Der Staat als Helfer nicht nur in der Not, als alles regelnde Macht wurde immer normaler. Die ureigenste Aufgabe liberalkonservativer – nein, das ist kein Widerspruch – Politiker wäre es, vehement dagegenzuhalten, den Vormarsch des Staats zurückzudrängen. Es passiert das Gegenteil: In Österreich wird ernsthaft überlegt, einen ehemaligen Mineralölkonzern wieder zu verstaatlichen. Warum nicht gleich die Voest? Die ehemaligen wirtschaftspolitischen Rechten überholen die Linken links.

Wie es so weit kommen konnte? Die Antwort ist leicht und kompliziert zugleich: Populismus. In Italien haben die Rechtspopulisten die Konservativen – mit deren eigener Unterstützung – zerstört und verdrängt, in Ungarn führt ein Autoritärer sein Land protektionistisch und dirigistisch. Über die wirtschaftlichen Pläne der Lega, Le Pens oder der FPÖ weiß man nicht viel, aber Wirtschaftsliberale sind sie sicher nicht, sie werden in Regierungskonstellationen den radikal populistischen Weg gehen, wirtschaftlich links und in der Ausländerpolitik rechts. Kurzfristig ist das offenbar leider erfolgreich.


Werden die Konservativen damit zur Fußnote? Muss nicht sein. Vor wenigen Jahren erst haben wir die große Krise der Sozialdemokraten ausgerufen, und heute sind sie wieder da, mit höchst unterschiedlichen Wegen und Plänen. In Österreich mit staatlicher Interventionslust, in Deutschland mit Koalitionsglück und in Dänemark mit einem Mitte-rechts-links-Kurs.

Womit wir beim Pragmatismus wären. Der ist in der Russland-Frage kaum möglich, es waren auch sozialdemokratisch geführte Regierungen wie die deutsche unter Schröder, die die Annäherung an Moskau vorantrieben. Doch die Konservativen machten gern mit. Mit Italien drohen nun erstmals wieder moskaufreundliche Parteien den europäischen Zusammenhalt gegenüber Putin zu sprengen. Auch das ist eine Folge der Krise der Konservativen.

In Deutschland scheint Friedrich Merz die Konsolidierung der CDU zu gelingen. Mit konstruktiver harter Oppositionspolitik, aber vor allem mit einer klaren Besinnung auf die Werte der Partei, nicht auf Umfragen und scheinbar populäre Ansagen. Wie schrieb doch einst eine deutsche Boulevardzeitung über einen österreichischen Kanzler? So einen brauchen wir auch.

E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com