Liechtenstein
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Frick: «Liechtensteiner fürchten, dass man ihnen etwas nimmt»

SCHAAN - Die Verkehrssituation in Liechtenstein ist im wahrsten Sinne des Wortes festgefahren. Ein allfälliger Gratis-ÖV würde zu wenig bewirken. Vielmehr schlägt LIEmobil-Geschäftsführer Jürgen Frick eine langfristige Strategie mit verschiedenen Massnahmen vor. Massnahmen, die automatisch auf sehr viel Widerstand stossen.

Volksblatt.li: Herr Frick, diese Woche wird sich der Landtag mit dem Thema Gratis-ÖV befassen. Als Grundlage dient eine Studie, welche LIEmobil in Auftrag gegeben hat. Wie stehen Sie zu dieser Idee?

Jürgen Frick: Wäre Liechtenstein eine Insel, könnten wir einen Gratis-ÖV eher in Betracht ziehen als mit unserer geografischen Situation. Wir teilen die ablehnende Haltung der Regierung. Die Studie kommt nämlich zum Schluss, dass sich ein flächendeckender Nulltarif nicht ohne Weiteres einführen lässt. Liechtenstein liegt im Rheintal, eingebettet zwischen zwei Ländern. Es gibt viele Pendler, die täglich ein- und ausreisen. Das heisst, wir müssen auch den öffentlichen Verkehr jenseits des Rheins und der Zollämter berücksichtigen.

Wieso das?

Die meisten Pendler leben in der Region. Stand jetzt können sie – sofern sie mit dem Bus oder der Bahn zur Arbeit fahren – mit dem Abo von LIEmobil von unseren Endhaltestellen in Österreich und der Schweiz nach Liechtenstein fahren. Würden wir also einen Gratis-ÖV einführen, müssten wir erst mit den Grenzregionen klären, wie wir es handhaben können, wenn ein Liechtensteiner oder eine Liechtensteinerin von Sargans oder Feldkirch fährt. Und wirklich gratis ist ein Gratis-ÖV ja nicht: Wenn die Einnahmen aus den Ticketverkäufen entfallen würden, müsste der Staat jährlich 5,5 Millionen Franken zusätzlich aufwenden. Dann beliefe sich der Beitrag an LIEmobil auf gut 20 Millionen Franken jährlich. Ich gehe nicht davon aus, dass liechtensteinische Steuerzahler den Fahrgästen im schweizerischen und österreichischen Grenzgebiet den öffentlichen Verkehr finanzieren wollen.

Das heisst, wenn LIEmobil den Nulltarif im Land einführen würde, müssten Fahrgäste ab der Grenze wieder zahlen?

Abhängig von zu klärenden Vereinbarungen ist davon auszugehen, dass es Situationen geben wird, in denen die Passagiere für diese Kurzstrecke tiefer in die Tasche greifen müssen als heute. Denn dann würden die Preise des jeweiligen ausländischen Verkehrsbetriebs gelten, nicht mehr die der LIEmobil. Vor allem Abos sind insbesondere in der Schweiz viel teurer als hierzulande. Unter dem Strich würde ein Pendler, der etwa in Buchs oder Sevelen wohnt, am Ende mehr zahlen, sobald Liechtenstein auf eigenem Hoheitsgebiet den Gratis-ÖV einführen würde. Man muss sich also im Klaren sein, dass gratis nicht gratis heisst. Die Steuerzahler in Liechtenstein und mitunter auch die Pendler aus der Schweiz müssten mehr zahlen. Ein ganz anderer Punkt ist, dass sich ein kostenloser Betrieb negativ auf die Sicherheit beziehungsweise das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste auswirken würde.

Inwiefern?

Wenn eine Sache gratis ist, gehen die Leute anders damit um, als wenn sie etwas kostet. Die eingangs erwähnte Studie kommt zum Schluss, dass Vandalismus in einem Gratis-ÖV plötzlich zum Thema werden würde. Das Coronajahr 2020 unterstreicht diese These: Weil es in den Bussen keine Kontrollen mehr gab, konnte jeder ungehindert einsteigen und mitfahren. Wir haben deshalb Rückmeldungen von Fahrgästen erhalten, die sich in den Bussen fortan nicht mehr so sicher fühlten. Das liegt nicht nur an Corona. Ohne Abo- und Ticketverkäufe haben wir keine Kontrolle mehr. Es gibt dann nichts mehr, was wir aufsässigen Fahrgästen nehmen könnten. Das heisst, sie könnten theoretisch tun und lassen, was sie wollen.

Warum hat denn die Regierung darum gebeten, diese Massnahme zu prüfen, wenn es schon so viele Nachteile gibt?

Es ist in meinen Augen richtig, dass die Regierung die Expertise von Fachleuten heranzieht, um die Vor- und Nachteile aufzuzeigen. Eine Aufgabe von LIEmobil ist es, die Strassen zu entlasten. Die Staus während den Stosszeiten stellen für das Land ein enormes Problem dar. Und die Studie kommt eben zum Schluss, dass ein kostenloser ÖV dieses Problem nicht beheben würde. Sicher würden mehr Leute das Angebot der LIEmobil nutzen, doch die Staus würden bleiben. Dies, weil die Fahrgastzahlen bei einem kostenlosen Betrieb hauptsächlich im Freizeitverkehr steigen würden. Die Studienautoren stützen sich dabei unter anderem auf Erfahrungen aus Riga, Luxemburg und anderen Städten. Selbst Liechtenstein führte 1988 probeweise den Nulltarif ein und stellte primär den zunehmenden Freizeitverkehr fest. Früher oder später kommen alle zum Schluss, dass ein flächendeckender Gratis-ÖV nicht der «Heilige Gral» ist.

«Früher oder später kommen alle zum Schluss, dass ein flächendeckender Gratis-ÖV nicht der ‹Heilige Gral› ist.»

Verwerfen wir mal die Idee eines flächendeckenden Gratis-ÖV. Wie stehen Sie zu hybriden Lösungen wie kostenlose Billetts für Schulkinder, Studierende und Lernende? Die Studie schlägt ebenfalls solche Lösungen vor.

Hier müssen wir jeden Fall separat beurteilen. Gratis-Abos für Schülerinnen und Schüler gab es beispielsweise bis vor wenigen Jahren. Diese fielen den landesweiten Sparmassnahmen vor rund zehn Jahren zum Opfer. Das Schulamt hatte damals nicht budgetiert, dass LIEmobil die Tarife erhöhen musste, um ebenfalls einen Sparbeitrag zu leisten. Heute müssen, respektive können, Eltern für 80 Franken auf das vollwertige Abo aufzahlen. Wir würden es befürworten, wenn Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schulen den öffentlichen Verkehr künftig wieder gratis benutzen könnten. Immerhin sind sie gute Kunden, die das Angebot der LIEmobil regelmässig nutzen. Auch würden Gratis-Abos den Prozess für uns wieder vereinfachen.

Haben Sie das bei den Behörden schon einmal angeregt?

Ob es wieder kostenlose Schülerabos geben soll, müssen die politisch Verantwortlichen beantworten. Es ist also eine politische Entscheidung Wir von LIEmobil stehen dem Anliegen – das auch schon an uns herangetragen wurde – durchaus offen gegenüber. Betroffen davon ist aber nicht das Budget von LIEmobil, sondern das des Schulamtes.

Und bezüglich Jobtickets und dergleichen?

Sicher ist es sinnvoll, bei den Pendlern Werbung für gute Angebote zu machen. Mit den rund 5,5 Millionen Franken, die uns ein flächendeckender Gratis-ÖV kosten würde, könnten wir sicher einiges bewerkstelligen. Solche Jobtickets sind eine gute Idee, aber wir müssten sie wie alle anderen Massnahmen erst gründlich prüfen. Wir können, wie gesagt, nicht nur bis zu den Rheinbrücken und Zollämtern denken. Immerhin pendeln täglich rund 22 000 Arbeitskräfte über die Grenze – und täglich werden es zwei Pendler mehr. Jeder zehnte davon nutzt den öffentlichen Verkehr für den Arbeitsweg. Das heisst, alle zehn Tage befinden sich auf Liechtensteins Strassen zu Stosszeiten im Schnitt 18 zusätzliche Autos und zwei neue ÖV-Nutzer. Wenn wir den Stau im Land also reduzieren wollen, müssen wir uns auf die Arbeitspendler fokussieren. Ziel ist es, um 8 Uhr morgens und 17 Uhr abends so viele Menschen wie möglich in die Busse zu bringen. Denn genau dann sind die meisten Pendler unterwegs – Inländer wie Ausländer gleichermassen.

Was ist denn die Ursache für das Verkehrsproblem in Liechtenstein?

Die vielen Arbeitsplätze. Irgendwie müssen die Leute ja zur Arbeit kommen.

Gilt das auch für die Arbeitskräfte aus dem Land? Für diese sind die Wege in der Regel oftmals kurz.

Statistiken zeigen tatsächlich, dass viele Inländer nur kurze Arbeitswege haben. Unglücklicherweise legen Viele davon diesen Weg aber mit ihrem Auto zurück. Dies, obwohl sie die betreffende Strecke problemlos auch mit dem Fahrrad oder gar zu Fuss zurücklegen könnten. Es muss nicht unbedingt der Bus sein. Wer beispielsweise von Vaduz nach Schaan muss, ist mit dem Fahrrad wahrscheinlich schneller als mit dem öffentlichen Verkehr. In Liechtenstein ist es auch so, dass der Preis von Billetts und Abos für die meisten Leute keine Rolle spielt. Wohlgemerkt kostet ein Jahresabo der LIEmobil 370 Franken. Das entspricht etwa einem Franken pro Tag. Wie weit würden Sie mit einem Franken mit dem Auto kommen? Jedenfalls nicht weit genug. Hinzu kommt, dass die Gemeinden den Abo-Kaufpreis teils zur Hälfte zurückerstatten. Die Liechtensteiner wählen also nicht das Auto, weil es billiger ist, sondern einfach, weil sie es besitzen.

Das Liechtenstein-Institut ist in einer vor kurzem veröffentlichten Forschungsarbeit zum selben Schluss gekommen. Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, dass die Leute auf den ÖV umsteigen?

Nehmen wir als Beispiel die Stadt Zürich. Wer schon einmal mit dem Auto dort war, weiss, dass es einem schwer gemacht wird. Der Individualverkehr kommt nur langsam voran und Parkplätze sind sowohl selten als auch teuer. Mit dem öffentlichen Verkehr ist man dort viel schneller und flexibler. Deshalb steigen die Autofahrer um. Andere Städte verfolgen dieselbe Strategie. Davon sind wir hier in Liechtenstein aber noch weit entfernt. Einerseits gibt es hier genügend Parkplätze, die meistens sogar gratis sind, andererseits fahren die Busse auf derselben Strasse wie der Individualverkehr – und bleiben im Stau stecken. Ausnahmen gibt es nur wenige, etwa die Busspur zwischen Vaduz und Triesen. Um zu Ihrer Frage zurückzukommen: Es braucht verschiedene Massnahmen, damit die Leute umsteigen.

Wie sehen diese Massnahmen aus?

Die Summe macht es aus. Aus Sicht des öffentlichen Verkehrs müssen wir auch gute, grenzüberschreitende Angebote schaffen. Das ist aber einfacher gesagt als getan, zumal die Tarife in allen drei Regionen, die wir bedienen, unterschiedlich hoch und unterschiedlich zusammengesetzt sind. Die Politik hat hier aber schon die Weichen richtig gestellt. Die Ministerinnen und Minister der Region erkennen, dass alle Beteiligten zusammenarbeiten müssen. Es gibt schon konkrete Anhaltspunkte, wie diese Zusammenarbeit aussehen könnte: Eine Idee ist es beispielsweise, die grenzüberschreitenden Linien von Liechtenstein in die Schweiz auszubauen und zu verlängern. Wir müssen zusammenwachsen. Als grosse Agglomeration können wir den öffentlichen Verkehr besser fördern.

«Als grosse Agglomeration können wir den öffentlichen Verkehr besser fördern.»

Was bedeutet diese Strategie für LIEmobil aus finanzieller und personeller Sicht?

Wahrscheinlich würde sich nicht viel ändern. Schon heute bedienen wir einen Grossteil des Landes im Viertelstundentakt – während den Stosszeiten sogar Ruggell und Triesenberg. So dichte Taktzeiten gibt es in der Schweiz in der Regel nicht. Das grenzüberschreitende Liniennetz muss also primär auf Schweizer Seite ausgebaut werden. Insofern würde die Schweiz für die Mehrkosten aufkommen. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass auch Vorarlberg und der Kanton St. Gallen mit einem Verkehrsproblem kämpfen. Auch wenn wir unser Angebot ausbauen, stehen die Busse im Stau. Es braucht gemeinsame, umfassende Massnahmen.

Wie müsste der Verkehr geregelt sein, damit es keine Staus mehr gibt?

Busse müssen im Verkehr bevorzugt werden, weil sie viele Leute auf wenig Fläche transportieren. Es ist eine Tatsache, dass jeder zusätzliche Buspassagier dazu beiträgt, das Verkehrsproblem zu lösen. Jedes zusätzliche Auto trägt hingegen dazu bei, das Problem zu verschärfen.

Glauben Sie, dass die Bevölkerung – überspitzt behauptet – überhaupt eine Lösung will? Abstimmungen zur Verkehrsentlastung scheiterten in der jüngeren Vergangenheit immer wieder an der Urne. Dazu gehören der Ausbau der S-Bahn, Tempo 30 in Schaaner Quartieren oder eine Sperrung des Rheindamms in Vaduz.

Damit haben Sie Ihre Frage zu einem gewissen Mass schon selbst beantwortet. Ich bin überzeugt, dass niemand Stau möchte. Die Frage ist nur, welchen Beitrag jeder einzelne dazu leisten will. Es nützt nichts zu denken: «Die anderen sollen mit dem Bus fahren, damit ich mit meinem Auto freie Fahrt habe.» Wenn jeder so denkt, stehen wir am Ende wieder vor demselben Problem.

Welche Städte oder Regionen haben den Verkehr bereits in den Griff bekommen?

Paris zum Beispiel. Die Stadt entwickelt sich seit einigen Jahren zu einem fahrrad- und fussgängerfreundlichen Ort. In anderen Städten Europas sieht es ähnlich aus. Hier haben die Verantwortlichen fortlaufend kleine Massnahmen getroffen, die heute zur verbesserten Lebensqualität mit weniger Autoverkehr beitragen. Das ist ein Ansatz, den wir im Land durchaus verfolgen sollten. Denn hier sind die Wege ebenfalls kurz. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Städten und «Semi-Agglomerationen», wie wir es sind, gibt. Auch die Denkweise spielt eine Rolle. Die Liechtensteiner fürchten sich davor, dass man ihnen mit möglichen Einschränkungen etwas nimmt. Aber sind wir mal ehrlich: Wohin gehen Sie in den Urlaub, wenn Sie entspannen wollen? Wohl nicht in eine US-Grossstadt mit zehnspurigen Autobahnen, sondern in eine Stadt mit vielen Parks und Fussgängerzonen.

«Wir können nicht einfach mit dem Finger schnippen und das Problem ist gelöst.»

Könnte man zusammenfassend also sagen, dass der Lösungsweg bereits vor uns liegt und wir nur noch den Mut brauchen, den ersten Schritt zu wagen?

Ja und nein. Dieser Lösungsweg besteht aus vielen Schritten. Wir können nicht einfach mit dem Finger schnippen und das Problem ist gelöst. Amsterdam wurde beispielsweise nicht über Nacht zur Fahrradstadt. Das ist das Resultat einer jahrzehntelangen Entwicklung. Immerhin sprechen wir hier von Infrastruktur, also Strassen, Radwegen und Fussgängerstreifen. Die Planung braucht ihre Zeit. Letzten Endes muss das Land Bahn, Busse, Autos, Fussgänger und Fahrradfahrer in die gleiche Richtung lenken. Eines ist jedoch sicher: Das Thema Verkehr ist und bleibt eine politische Knacknuss. Vor allem, weil sich auch die Bedürfnisse weiterentwickeln. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Grosskreisel in Schaan. Als das Projekt ausgearbeitet wurde, hätte das Konzept das Verkehrsproblem im Dorfzentrum noch beheben können. Kurz nachdem dieser fertiggestellt war, reichte die Kapazität bereits nicht mehr aus. Das Resultat: Es staut trotz vermeintlichem Geniestreich. Das ist aber kein Vorwurf. Die Planer gingen damals schlichtweg von weniger Verkehr aus – auch wenn es damals «nur» ein paar tausend Autos weniger pro Tag waren.

Wie wird der Landtag auf die Studie reagieren?

Das kann ich nicht beurteilen. Wir werden die Debatte aber mit Interesse mitverfolgen. Ich bin gespannt auf die Wortmeldungen.

(mw)